Kurzfassung in Lettre, Zeitschrift für internationale Kultur und Politik, März 2003

 

Liebet eure Feinde!

Das betagte Sätzchen aus dem Neuen Testament klingt merkwürdig fremd, während zu Jahresbeginn 2003 der Irak tödlich umstellt wird. Was mag "Feindesliebe" wohl bedeuten, wenn der Westen orientalische Kriege vorbereitet und führt? Vielleicht sind einige Reflexionen über Sinnlichkeiten auf dem west-östlichen Diwan hilfreich, um dieses Stückchen Bergpredigt aktuell zu erschließen. Der europäische Blick auf das sogenannte Morgenland war ja stets von erotisch getönter Hass-Liebe geprägt, nie gleichgültig und immer ambivalent. Auch gab es all die anziehenden Düfte, Klänge und Farben. Diese alte, stark sinnliche Spur weist zunächst in die Küche, denn es gibt keinen Tanz vor dem Essen. "Liebe geht durch den Magen" heißt es. In meiner Kindheit begann etwas davon zu leben, wenn ich auf einen Küchenschemel kletterte, um den verstaubten Gewürzschrank meiner Großmutter zu öffnen. Selbst in geschlossenem Zustand duftete es hier nach Nelken und Koriander und Geheimnis. Es war in kleinen Blechschatullen verborgen und zeigte außen exotisches Getier. Die Viecher "starrten" über den Nil zu mir herüber und noch heute gehe ich ausgesprochen gerne in Zoos. Später in der Schule erzählte mir ein Junge, dass Muskatnuss "geiler als kiffen" wäre. Ich wagte nicht zu fragen, was das sei. Doch noch vor meiner ersten Zigarette war ich mit dem Esslöffel im (verglichen mit Oma) bescheidenen Gewürzregal meiner Mutter und verschluckte mich an einer Riesenportion braunen Pulvers. Später hieß es, die Muskatwirkung sei "aphrodisisch", aber da kannte ich bereits stärkere Aphrodisiaka vom Schlage "schwarzer Afghan" und ließ die Gewürzvorräte älterer Damen in Ruhe.

Liebet eure Feinde? Die drei heiligen Worte verbinden möglicherweise akute Kriegsgefahr mit einer Uraltfassung von "Make love - not war!" (vielleicht auch: Love as the better war). Helga Götze fällt mir ein, die alte Lady vor der Berliner Gedächtniskirche mit ihrer Kampagne "Ficken für den Frieden". Und ein Couvert der "Titanic" aus der Mitte der Achtziger, als unter Kohl die neue Fremdenfeindlichkeit ausbrach: "Ausländer rein!" hauchte eine dralle Blonde unter einem spindeldürren Schnauzerträger mit arabischem Teint und drückte mit beiden Händen auf sein entblößtes Hinterteil, mithin das, was umseitig vermutet werden darf, lüstern in ihre Weichteile. Ein altes Muster, eine utopische Hoffnung vielleicht. "Lasst das Mögliche denen, die es mögen" lehrte Georges Bataille.

Einst war die kleine Europa gegenüber dem Orient in der Position der faszinierten Verliererin. Noch 1683 standen die Truppen des Osmanischen Reiches vor Wien. Doch Macht ist bekanntlich sexy und so fand Europa, in unterlegener "Stellung" auf den Geschmack gekommen, ihre neuzeitliche Lust im kolonialen Stellungswechsel dieses Liebesspiels. Die hellhäutig blonde Schönheit mutierte im Angstschweiße ihres riskanten Turtelns zum potenten Torero, packte den Stier nun bei den Hörnern, machte ihn gefügig und nachhaltig ökonomisch abhängig. Gegenüber der Kreuzfahrerzeit hat seither eine west-östliche Vertauschung der sexualmoralischen Positionen stattgefunden, die mit dem Anschlag auf Bali blutigen Ausdruck fand. Ein Gutteil der sinnlichen Faszination ist im Verlaufe eines Jahrtausends der Welteroberung in eine Art "allgemeine Exotik" eingegangen, die andere Völker und Kulturen in jedem Sinne des Wortes "begehrenswert" machte. Humboldts Forschungsideal gehörte dazu und als operettenhafter Nachklang die Begeisterung für Fernurlaube. Heute lösen die wenigen weißen Fleckchen auf Globen und Genomkarten kaum noch ernstlich "Begehren" aus. Nicht einmal das eigene, ehedem unheimliche und geheimnisvolle Begehren scheint mehr so recht begehrenswert zu sein. Vielleicht etwas zu kulturpessimistisch, aber Jean Baudrillard meint sogar, unsere westliche Verzweiflung sei "unwiderruflich, denn sie resultiert aus der Realisierung all unserer Wünsche." (1)

Liebet eure Feinde. Vielleicht ist es tatsächlich nicht nur das "heiße" Öl, das alle Welt so scharf auf die Länder "Mahomets" (2) macht. Vielleicht ist noch etwas übrig vom erotisch besetzen Morgenland, das trotz größter militärischer Kraftakte bislang nur aufgeteilt, aber nie vollständig besetzt und unterworfen werden konnte. Wo immer man die 1001 Liebesnächte bislang geographisch einzuordnen suchte, jede Lösung blieb unbefriedigend. Dass die geographische Einordnung so schwer fällt, gehört wesentlich zum besonderen Faszinosum des Orients mit seinen religiös-politisch-erotischen Ambivalenzen und Interferenzen. Die Ströme des Paradieses etwa wurden bis zur Entdeckung der Subsahara hinter den Quellen des Nils vermutet, in einem gemeinsamen Horizont verlorenen irdischen Glücks und himmlischer Hoffnung, der zugleich vage geographisch und religiös jenseitig blieb - dem begehrten Sujet entsprechend. Mit dem neuen Terrorismus ist gar jede bestimmte Position einer hochaktuellen Form von "Morgenland" auf dem Globus obsolet - irgendwo ist immer "Morgen", Al Kaida schläft nie. Mittelalterliche Reisetexte erzählen "Wunder von seltsamen wilden Tieren der mannigfaltigsten Art, Löwen, Schlangen, Elefanten, die seien gekommen und hätten sie über den Strom (Nil) herüber, wie sie stromaufwärts gingen, immer angestarrt." (3) Wer da wohl "starrt", ob es in der Tat "Tiere" und nicht vielmehr die "Entdecker" auf der anderen Flussseite sind? Begehren und staunen: Ludwig IX von Frankreich muss man sich als "idealen Kreuzfahrer" (4) mit offenem Munde staunend vorstellen, als er im Palast des ägyptischen Sultans gefangen war, dessen Bibliothek benutzen durfte und freizügige Religionsgespräche mit dem Feind führte. So ein Serail mit Dutzenden begehrenswerten Frauen und Jungmännern mag den weniger verwöhnten Kreuzkriegern wie der Himmel auf Erden erschienen sein. Ihr "Chef", der keusche Ludwig IX, reflektierte diese Faszination der morgenländischen Sinnlichkeit quasi negativ, als er im theologischen Disput mit dem Sultan von Ägypten wiederholt den Ausdruck "spurcissimus" (5) gebrauchte, was soviel bedeutet wie "Sauerei", vornehmlich im sexualmoralischen Sinne. Sein lebenslustiger politischer Widerpart, Kaiser Friedrich II, verehrte dagegen die sinnliche Kultur der Muslime in jeder Hinsicht und besaß zu dieser Zeit als erster christlicher Monarch bereits einen Harem. Die entsetzten Proteste des Papstes und zahlreicher Geistlicher dieser Zeit (6) benutzten für ihre sittliche Entrüstung denselben Ausdruck.

Mit der Feder kreuzritterlicher Leibesfreuden hat sich also das Faszinosum "Morgenland" nachhaltig ins abendländische Wünschen eingeschrieben. (7) "Feindesliebe" könnte wechselseitig sinnliche Erotik von Völkern und lüsternes Begehren unter Kulturen meinen, vordergründig sexuell z.B. das Phantasma der blonden Frau bzw. des dunklen Teints. Derlei ist chancenreich, aber niemals ohne reale Gefahren wie bei jedem sinnlichen Taumel. In diesem Sinne scheinen sogar Kriege erotisch geprägt zu sein und den Spuren wechselseitigen Begehrens zu folgen, wobei die aktuelle westliche Begierde nach den Morgenländern wohl eher einseitig ist. Ungleichheit des Verlangens schmälert aber die Anziehung nicht, im Gegenteil.

Krieg und Erotik finden einen gemeinsamen religiösen Nenner im Opfer. Mit der Säkularisation hat diese Dimension sich vermutlich sogar intensiviert. Die Leichenberge der Moderne und die enorme Bedeutung sexuellen Glücks weisen in diese Richtung. Zur komplexen Logik des Opfers gehört die Hingabe wie auch die Hinrichtung und manchmal geht beides ineinander über. Das Opfer fasziniert ebenso mikro- wie makrostrukturell und erweist sich nicht nur aufklärungsresistent, sondern per "aufgeklärter" Selbstvergöttlichung sogar ganz besonders "fromm". Das ist kein Widerspruch zu ausdrücklich religiöser Kriegsbegeisterung, wie sie heute viele Muslime bewegt und im Mittelalter viele Christen umtrieb. Als Bernhard von Clairveaux 1142 zum zweiten Kreuzzug rief, tat er sein wortgewaltiges Werk nicht zufällig in der berühmten Kirche der heiligen Magdalena von Vezelay, sondern weil sich diese Frau hervorragend als Model(l) und Sexsymbol für sein Kreuzkriegsbegehren eignete. Maria Magdalena hatte in Palästina als Hure gelebt und ihrer Umsiedlung ins karge Südfrankreich entsprach ihre Bekehrung zur Sittsamkeit. Bernhard wollte seine Krieger in die umgekehrte Richtung locken, dorthin, wo Nachfahrinnen Magdalenas zu vermuten sind. Diese wohl kaum bewusste Rekrutierungsstrategie stand in ihrem religiös-kriegerisch-erotischen Mix jedoch keineswegs allein, sondern war integraler Bestandteil einer dramatischen "Vergeschlechtlichung" des Christentums ab dem 12.Jahrhundert. Deren Hauptfigur war nicht die kleine Hure, sondern ihr großes metaphorisches Pendant: die jungfräuliche Mutter Jesu. Keine andere monotheistische Religion kennt eine Repräsentantin mit solcher Universalität. Zwar sei die Fleischwerdung Gottes aus ihr nicht eigentlich sexuell vor sich gegangen, aber mit Mariens "Aufstieg" wird das Verhältnis der katholisch westlichen Menschheit in einer komplexen und widersprüchlichen Weise "geschlechtlich". Das gilt Gott gegenüber und in der Selbstwahrnehmung eines ausgeprägt politischen Katholizismus mit feminin gedeuteter globaler Mission. Heutzutage lebt derlei bei den linksgerichteten Zapatistas in Mexiko wie in den rechtslastigen Bewegungen unter dem Namen des portugiesischen Marienwallfahrtsortes "Fatima". (8) Entsprechend widersprüchlich begann auch in der Kreuzzugszeit eine in gewissem Sinne "weibliche", ganz entgegen der Kriegsrealität "sanfte" und vor allem "gerechte" Selbstkodierung des Abendlandes, die in der heute neu erstarkten Vorstellung vom "gerechten Krieg" und dem mit ihm fast identischen "humanitären Einsatz" fröhliche Urständ feiert. Hier die jungfräulich Sanften und mütterlich Guten (wobei "Jungfräulichkeit" als Sexideal nicht nur dieser Zeit mitzudenken ist), dort die für Jungfrauen und Mütter auch erotisch interessanten, zugleich gefährlichen Schurken. Bernhard, dessen Dichtungen die neue Intensität der Marienverehrung im Mittelalter einleiteten, stellte sich sein gerechtes Europa unter dem weit wallenden Schutzmantel der Gottesmutter vor, eine lüsterne Männermasse mit gezücktem Phallus inmitten atemberaubender Unterhosendüfte. (9) Und als mystisch-politische "Gesamtfrau", im Inneren bestehend aus den kreuzkriegernden Völkern wie eine Trojanische Stute, sollte den Sarazenen und Beduinen das Heilige Land entrissen werden. Für Ludwig IX gingen die Kreuzzugswege ein Jahrhundert später bereits von einer Marienwallfahrt zur nächsten und bald rammten christliche Krieger verschlossene Festungstore mit dem rhythmischem Schlachtruf "Maria hilf!" In den lateinamerikanen Kolonialkriegen war Maria für Philipp II von Spanien "Generalissima" und der zugehörige Papst Pius V feierte sie als "Obsiegerin gegen die Türcken". Seit dem 16.Jahrhundert gibt es Marienfeste zum Gedenken an siegreiche Orientschlachten, z.B. die "Rosenkranzkönigin" am 7.Oktober. 1571 vernichtete an diesem Tag Don Juan de Austria die osmanische Flotte vor Lepanto und 2001 begann das Bombardement Afghanistans, was auf einer nicht rationalen, aber kulturell/mythologischen Ebene interessant ist. Auch der Anschlag auf das WTC geschah am Vortag des 12.September, wo mit "Mariä Namen" des Sieges über die Türken vor Wien im Jahre 1683 gedacht wird. Zahlreiche süddeutsche Kirchendecken dieser Epoche zeigen Maria als "weibliches" Selbstbild Europas, wie sie einen barocken Krieg der Sterne wider die osmanische Streitmacht abfackelt.

Zwischen Männern im Inneren von Frauen vice versa und androgynen Metamorphosen jeder Art tobte ein Geschlechterkrieg, der den kleinen wie den wirklichen Tod offensichtlich überzeugend umschloss, zumindest was die nicht enden wollenden Spuren dieses alten Begehrens angeht. Schwer zu sagen, wo hier "männlich" und "weiblich" empfunden wurde bei all dem Kriegsgeheul, aber geschlechtlich und wesentlich lüstern waren diese morgen-abendländischen Phantasien allemal. Transgender und Intersex galten bis in die Renaissance als Aufweis göttlicher Lüste und auf dem west-östlichen Diwan gab es vielerlei und immer Neues davon. Das scheint bis heute im wesentlichen so geblieben zu sein. Als 1991 Kuwait per Wüstensturm mit mehr als 200.000 Ziviltoten "befreit" wurde, kursierte der schlechte Witz, Saddam Hussein und Bush senior hätten besser einander ficken sollen. Während des Bombardements Afghanistans erschien das postmoderne Morgenland als weihnachtliche Zigarettenwerbung in Gestalt von drei supersexy "heiligen Königinnen". Selbst die von den Taliban geknechteten Frauen wurden wider Willen zum auch erotischen Kriegsgrund. Mit Iraks Saddam 2003 scheint jedoch jede herkömmliche Feinderotik zu schwinden, es sei denn, man interpretiert das diplomatische Gezerre der USA und der UN im Sinne der Heimlichkeiten und Vertrauensbrüche im Opernlibretto von Mozarts Don Giovanni, mit Saddam Hussein in der Hauptrolle. Mehr als tausend Jahre lang hatte die Liebe zum orientalischen Feind zahlreiche bodenständige Stadien durchlaufen, bis nun auch dieses Begehren virtuelle Gestalt annimmt. Die "weltkulturelle" Virtualisierung programmiert auch die Sinnlichkeiten neu mit Chancen, Risiken und Nebenwirkungen. Im Zuge dieser nachhaltigen Veränderung aller Dinge migriert der Eros aus dem Center in die universale Globalität. Die sinnliche Vorbereitung eines "Kreuzzuges" gegen Irak folgte vermutlich auch deshalb nicht mehr herkömmlicher Feindesliebe, obwohl die beiden obersten Kontrahenten durchaus Qualitäten für Homoporno böten. Halb virtuell halb real, wie das mittelalterliche Paradies hinter dem orientalischen Horizont, bauen beide Konfliktparteien die Welt zu einer Art Folterschloss um, die Perfektion der Kerker aus de Sades "Justine", vielleicht auch als säkularisierte Höllen, wie sie im Neuen Testament und im Koran (und noch grausamer bei den Marienvisionen von "Fatima") entworfen werden. Dem normalen Gefängnis des Irakischen Justizvollzuges entspricht die Normalität von Guantanamo. Der virtuellen Allgewalt muslimischen Terrors steht ein globaler Krieg der westlichen Welt für "dauerhaften Frieden" gegenüber.

Islam und Christentum gleichen sich in ihren lüsternen Jenseitsperspektiven: eine ultimative Paradieshochzeit, für deren nie endende Genüsse sich jedes Opfer auf Erden lohnt. Doch Braut und Bräutigam bedürfen der Differenz, zwar nicht notwendig des "Geschlechtes", aber ohne interessante Andersheiten erwacht kein Begehren. Darum sitzt das alte west-östliche Paar wohl in der Falle selbstgeschaffener Totalität, die Islam wie Christentum gleichermaßen eigen ist. Statt immer neu an- und aufregend verschieden zu werden, sind sie auf ihre alten Tage quasi zubetoniert "eins" geworden. Alles passt dicht auf dicht, nicht wie der Arsch auf dem Eimer, wo immer noch eine Furz dazwischen geht. Zum Totalitarismus gehört es, dem Feind seine Meinung aufzuzwingen und Geschichte nach eigenem Gusto umzuschreiben. Bushs unilaterale Politik ist von solcher "Weltpädagogik" durchglüht und genauso jeder islamistische Terroranschlag. Als im letzten April auf der tunesischen Insel Dscherba die La-Ghriba-Synagoge explodierte, war das eigentliche Ziel vermutlich diese älteste Synagoge Afrikas als historische Zeugin einer auch historisch "löchrigen" Islamherrschaft. Der Massenmord in der beliebten Anmachmeile auf Bali im Oktober zielte auf die westliche Freiheitsgeschichte, Fleisch geworden in lasziven jungen TouristInnen, und sollte die Welt zumindest auch über gottgewollte Sexualmoral belehren. Wie total das globale "Empire" derzeit verklebt, verdeutlicht das Vorbereitungsszenario zum Irakkrieg. Zur selben Zeit und aus denselben Teilen der Welt fließen Millionenbeträge für Notdienste und Milliarden für den Aufmarsch, der alle Not erst anrichten soll. Krieg wird ideologisch und fiskalisch zum "humanitären Einsatz". Wie Michael Hardt und Antonio Negri für den aktuellen Zustand der Globalisierung konstatieren (10), verschwinden ehedem kulturtragende Differenzen in einer als Spektakel inszenierten Omni-Krise, kriegslüsterner denn je. Alles klebt frustriert aneinander. Darauf zielte nach Adorno die kulturelle Ökonomie der Moderne: "Alles ist Eins. Die Totalität der Vermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprinzips, produziert zweite trügerische Unmittelbarkeit. Der Schein wäre auf die Formel zu bringen, daß alles gesellschaftlich Daseiende heute so vollständig in sich vermittelt ist, daß eben das Moment der Vermittlung durch seine Totalität verstellt ist. Kein Standort außerhalb des Getriebes läßt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre." (11) (12) Auch Jean Baudrillards Analyse basiert auf der aktuellen Unmöglichkeit für echte Differenz die mit einer entscheidenden "kulturerotischen" Dimension verknüpft ist. Er beklagt die Unmöglichkeit der interkulturellen Gabe. Daher beruhe die gegenwärtige Weltlage "sowohl auf der Verzweiflung der Gedemütigten und Beleidigten als auch auf der unsichtbaren Verzweiflung der Privilegierten der Globalisierung." Letztere haben zwar die Erfüllung zahlloser Wünsche für sich erreicht und sind noch dabei, aber fühlen längst das Ende der Fahnenstange, nicht nur der Ressourcen, sondern mehr noch der Hoffnung und des Optimismus, der dafür notwendig war und nicht wiederkehren will. Der skandalöserweise noch immer nicht abgeschaffte Hunger (14) verstellt es manchmal, aber die andere große Not scheint zu sein, niemals (mehr) etwas kulturmächtiges geben zu dürfen, weil der Westen immer schon "alles" gegeben hat und den globalen Rest anscheinend bloß noch kurzzeitig in Arbeit nimmt. Terror und Fundamentalismus drücken mithin den Frust aus, "alles" empfangen zu müssen, nämlich die nicht für alle in gleicher Weise plausiblen westlichen Werte, von den milden Gaben der NGOs ganz zu schweigen. In den westlichen Individuen dümpelt eine sehr verwandte Enttäuschung, auch der Hoffnung auf etwa neu erwachende Liebesspiele mit Freund und Feind. Vielleicht ist es richtiger, dennoch nicht in Kulturpessimismus zu verfallen, sondern mehr oder weniger nüchtern Hardt/Negri zu folgen, die "durch das Empire hindurch auf die andere Seite zu gelangen" (15) hoffen. Ihre methodischen Vorschläge dafür nisten in (entgegen dem totalen Anschein nicht völlig obsoleten) Ritzen und Brüchen der verklebten Krisen: Nomadismus, Desertion, Exodus, Sabotage etc. Derlei "Ritzigkeiten" enthalten durchaus Chancen für neue Gestaltungen von Feindesliebe und könnten der west-östlichen "Kulturerotik" sogar deutlich überlegen werden. Statt gefährlicher Machtblöcke würden dabei verbleibende Mini-Differenzen gesucht oder auch frisch erfunden, und womöglich neuerlich "feinderotisch" besetzt - vielleicht pluraler denn je. Doch mit dem totalisierten west-östlichen Diwan haben wir ein in der Tat totales erotisches Problem.

 

Fußnoten:

(1) Jean Baudrillard: Der Terror und die Gegengabe, in: Le monde diplomatique, deutsche Ausgabe 11, 8.Jg. November 2002

(2) In der mittelalterlichen Christenheit übliche Bezeichnung für Mohammed, den prophetischen und kriegerischen Begründer des Islam (570-632)

(3) Jacques Le Goff: Ludwig der Heilige, Stuttgart 2000 S.492

(4) Le Goff a.a.O. S.688

(5) Matthäus von Paris: Chronica maiora, hrsg. Von Henry R. Luard, 7 Bde., London 1972-1973, Bd. V S.213

(6) Nikolaus von Calvi, Bischof von Assisi (1247/1250-1273) und enger Vertrauter des Papstes, schrieb über Kaiser Friedrich: "In verschiedenen Gegenden des Königreichs Apulien, errichtete er dort, wo Gott geweihte Kirchen gestanden hatten, Häuser für seine sarazenischen Dirnen." Archivio della Reale Società Romana di Storia Patria 21 (1898) S. 102 f.zit. nach Klaus van Eickels/Tania Brüsch: Friedrich II. Leben und Persönlichkeit in Quellen des Mittelalters,Düsseldorf 2000 S. 363 f.

(7) Bereits lange vor dem "Orientalismus" der Kolonialzeit sind seit dem 13.Jahrhundert zahlreiche türkisch- (bzw. türkisch übermittelter arabisch- oder persisch-) stämmige Lehnworte im Deutschen, Russischen oder Italienischen erwiesen, z.B.'Kaffee', 'Sorbet', 'Kiosk', 'Turban' oder 'Pascha', 'Serail', 'Harem' - legen davon Beweis ab.

(8) Aus dem portugiesischen Dörfchen dieses Namens, 125 km nördlich von Lissabon, werden von Mai bis Oktober 1917 Marienerscheinungen berichtet. Ihre Zeitgleichheit mit der russischen Revolution könnte den antibolschewistischen Schwerpunkt der "Botschaften" Mariens initiiert haben. Unter dem Stichwort Fatima "maschiert" heute u.a. die "Blaue Armee Mariens", die - quasi eine Art "Opus Dei" für Arme - kirchliche und gesellschaftliche Strukturen rechtslastig zu unterwandern sucht und weltweit auf mehrere Millionen StreiterInnen geschätzt wird.

(9) Mit der Plünderung Konstantinopels auf dem 4.Kreuzzug (1204) gelangten u.a. "Fragmente des Mantels Mariens" nach Europa, die das bereits verbreitete lyrische Bild vom Schutz und ihrem Kleid extrem aufwerteten, so dass der Zisterzienser Caesarius von Heisterbach, Mitglied des Ordens, den Bernhard von Clairevaux gegründet hatte, um 1225 eine Vision berichtet, in deren Verlauf er alle Ordensbrüder verschwunden findet, daraufhin den Rock Mariens aufknöpft und den ganzen Zisterzienserorden darumter findet. Dialogus miraculorum VII 59, zit. nach: Remigius Bäumer/ Leo Scheffczyk: Marienlexikon, St. Ottilien 1994 S.83 In der Folgezeit sind Darstellungen dieser Art auch im weltlichen Bereich verbreitet.

(10) Michael Hardt/ Antonio Negri: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/Main 2002

(11) Th. W. Adorno: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag, 8.-11. April 1968 in: Soziologische Schriften Bd.I; Frankfurt a.M. 1972 S.369

(12) Bei Hardt/Negri liest sich das so: "Die gesellschaftlichen Konflikte, die das Politische ausmachen, werden unmittelbar ausgetragen, ohne irgendwelche Vermittlungsinstanzen. Darin liegt das wirklich Neue der imperialen Situation." a.a.O. S.400

(13) Baudrillard a.a.O.

(14) Zur Vorbereitung auf das Weihnachtsfest 2002 und kritisch zur Gentechnologie in der Landwirtschaft stellte der Beauftragte für Welternährung bei den UN kürzlich zum wiederholten Male klar, dass die aktuelle Nahrungsproduktion mehr als doppelt so viele Menschen ernähren könnte, als es heute gibt.

(15) Hardt/Negri a.a.O. S.230