Fluchtversuche: Das Leben des Miro Sabanovic zwischen Familienterror, Bahnhof Zoo und Ausländerbehörde; Hamburg 2002

 

Von Miro lernen?

Vom Alter her könnte ich sein Vater sein. Wir trafen uns etwa fünf Jahre lang regelmäßig in einem professionellen Beratungsset, da ich Miros Aufenthaltsangelegenheiten betreute. Nicht anwaltlich, denn ich bin kein Jurist. Den hätte er auch nicht gebraucht, denn "von Rechts wegen" gab es ohnehin keinerlei Chance für seinen legalen Aufenthalt, wohl aber unter den Gesichtspunkten humanitärer Härte. Nach seiner ersten Zeit in der Jugendhaft kam Miro daher mit seinem nicht nur väterlichen Freund in die Flüchtlingsberatung für "Härtefälle", wo ich arbeitete. Dem ist es zu verdanken, dass ich Miros Wunsch entsprechen wollte, seine Biographie lesbar umzuschreiben und zu veröffentlichen, auch ein Stück "Homosolidarität" ist dabei. Ich muss nicht betonen, dass die zahlreichen "Fälle", die ich im Rahmen dieser Härtefallberatung näher kennen lernen durfte, auch eine Lektion in Sachen Menschlichkeit waren. Die Fluchtgeschichten als "oral history" dokumentieren besser als jeder Zeitungsartikel, was Menschen typischerweise einander antun. Dazu kommt noch die gegen null tendierende Erfolgsquote der Flüchtlingshilfe betreffs "nutzloser" oder gar krimineller Illegaler. Westlich orientierte Staaten wie Deutschland offenbaren im Umgang mit diesen Menschen ihre xenophobe Doppelmoral und den Stellenwert der Menschenrechte als billige Rhetorik. Durch die vorliegende Veröffentlichung hoffe ich, zusammen mit Miro einen kleinen Beitrag zur Verflüssigung der festgefrorenen Migrationsverhältnisse zu leisten. Es versteht sich, dass dieser Essay meine Sicht auf Miro und einige kulturelle Fragen ist, die dieser junge Mann nach meinem Dafürhalten existentiell stellt.

Dieses Jungenleben ist randvoll mit extremen humanitären Härten, die bei ihrer bloßen Nennung eigentlich jedes Herz zum Schmelzen bringen müssten. Dass es dennoch nicht für Miros Legalisierung ausreichte, liegt auch an den Härten, die er selbst seinen Mitmenschen zufügt. Denn Miro, das Opfer, ist bei Gott kein Engel, sondern eine Zumutung, eine Frechheit auf zwei Beinen. Seit dem 14. 8. 2001 ist er nun abgeschoben und lebt auf bosnischen bzw. serbischen Straßen, manchmal in billigen Hotels. Niemand gibt ihm Arbeit, außer gelegentliche Freier, die lange nicht so gut zahlen wie ihre Berliner Artgenossen. Sein Berliner Freund unterstützt ihn weiterhin mit 150 Euro pro Monat, was dem Einkommen einer größeren Familie in dieser Gegend entspricht. Im Winter ging alles Geld für warme Schlafplätze drauf, wie Miro behauptet. Aber seine Telefonanrufe werden immer verwirrter, was auch daran liegen könnte, dass er wieder exzessiv Drogen konsumiert, die er nicht verträgt. Wegen Diebstahl, Raub und illegaler Prostitution war er bereits mehrfach erneut in Haft. Noch immer hat er sich nicht um Ausweispapiere gekümmert, geschweige denn einen Wiedereinreiseantrag nach Deutschland gestellt, um mit seinem Freund zusammen zu leben. Immerhin ist das Aufgebot für eine Lebenspartnerschaft noch kurz vor seiner Abschiebung bestellt worden, wodurch sein Wiedereinreisewunsch nicht völlig irreal wäre. Aber eben nicht am besten schon vorgestern realisierbar und mit rotem Teppich, sondern mit Bewährungsauflagen und erst frühestens nach einer Zeit, die seiner Haftstrafe an Länge in etwa entspricht. Das ist in der Tat nicht besonders komfortabel, aber doch eine begründete Hoffnung, die in dem Maße immer besser begründet sein könnte, wie Miro sich um Anpassung an gängige Lebensformen bemühen würde, was mit Papieren und Antragstellungen begänne. Die Zumutung namens Miro ist nicht die verständliche Tatsache seiner wachsenden Verzweiflung, sondern die Selbstgerechtigkeit mit der er Fehler ausschließlich bei anderen sucht. Manchmal habe ich ihn echt zerknirscht gesehen, wenn ihm kurzfristig klar wurde, was er einem seiner Opfer angetan hat. Doch um so stärker und hemmungsloser kehrte die egozentrische Weltsicht zurück. Wetterwendisch zerstob dann die eben noch aufrichtige Reue und ein aggressiver Wirbelsturm entlud sich auf seinen Freund, seine Helfer oder einfach die nächstbeste Person. Leider gibt es keinen Anlass zu der Hoffnung, dass er sich in irgendeiner Form von der Unbill seines Geschicks hätte zum Besseren beeindrucken lassen. An dieser Stelle scheiden sich die Geister. Nicht nur der junge Mann an sich, sondern bereits das Nachdenken über ihn und seinen Lebensweg polarisiert. Man steht vor der Alternative, eher dem potenzierten Unglück dieser Kindheit alle Schuld zu geben oder Miros eigenen problematischen Entscheidungen. Wer dem strukturellen Argument zuneigt, wird vielleicht mit der miserablen Position minderjähriger Flüchtlinge aufgrund unseres Ausländerrechtes beginnen und den Mangel an guten Alternativen zur Familienerziehung beklagen. Wer eher Miro selbst kritisch einschätzt, wird an die vielfältigen Chancen erinnern, die er in Berlin geboten bekam und deren ungeachtet er immer wieder hinter Gittern landete.

Wie auch die einzelnen LeserInnen votieren mögen, eher subjektiv oder eher politisch, der junge Mann Miro stellt der Welt existentielle Fragen jenseits von gut und böse. Damit passt er in die herrschenden Diskurse zu "Terrorismus" und "Sicherheit" wie der Arsch auf den Eimer: Miro demonstriert mit "koprophilem" Nachdruck, dass bei ihm sowieso immer nur Scheiße herauskommt und vergrätzt mit seinen cholerischen Ausbrüchen noch die ihm am meisten Gewogenen. Wer sich Miro widmet, sollte darum nicht auf Dankbarkeit hoffen. Denn für ihn zählt (fast) nur, was "hinten bei rauskommt". Nach Lage der Dinge in der Gesellschaft und in seiner Persönlichkeit stehen seine Chancen heute schlechter denn je. Auch bei näherem Hinsehen scheint es für Miro keinen Ausweg zu geben, weder aus sich selbst noch aus den Dilemmata herrschender Verhältnisse. Taugliche Fluchtwege für Jungs wie Miro sind offensichtlich versperrt oder scheinen unerreichbar zu sein.

Stricher wie Miro stellen daher auch der schwulen Welt existentielle Fragen jenseits von gut und böse. Es mag nahe liegen, zunächst nach der "Brieftaschensicherheit" in der Szene zu fragen oder das für Flüchtlinge beständig verschlechterte Ausländerrecht zu beklagen. Aber dem Drama dieses erfahrenen Sexarbeiters kommen wir damit noch nicht näher. Genau dieses Näherkommen bietet uns Miro aber mit seiner Biographie an: Schaut hin, das ist mein Leben und vergesst es nicht, wenn ihr auf mich scharf seid. Miros Biographie wirft einen grellen Spot auf mann-männliche Prostitution am unteren Ende der Stricherhierarchie. Als der Schwerpunkt des Geschäftes in Berlin noch der Bahnhof Zoo war, drückte sich die Rangfolge im Standplatz der Jungs aus. Die Roma waren und sind dabei das Allerletzte (Zigeuner = Zieh-Gauner) und werden von allen anderen auch so platziert. Nicht jeder Junge hat eine derart dramatische Geschichte. Aber jeder verkörpert eben die seine, was von Seiten der Kundschaft beim "Kauf" eines Migrantenkörpers für sexuelle Dienstleistungen zu berücksichtigen ist. Freier könnten anhand von Miros Biographie damit beginnen, Vorstellungen über die innere und äußere Zwangssituation der Objekte ihrer Begierde zu entwickeln. Das liegt in ihrem eigenen Sicherheitsinteresse, aber mehr noch im Interesse emotionaler Verständigung, die für ein glückvolles Sexerlebnis in aller Regel nicht unbedeutend ist. Damit soll nun nicht vorgeschlagen sein, jedem "ungermanisch" wirkenden Sexarbeiter das nackte Grauen unter die farbige Haut zu fantasieren. Außerdem ist vielen Flüchtlingen ihr Status nicht so drastisch auf die Haut geschrieben und wer alle über (s)einen Kamm schert (z.B. "die" Roma), liegt hierbei wie auch überall sonst stets und notwendig falsch. Doch die sexuelle Kundschaft von Migranten sollte auch nicht sagen können, mann habe ja nichts gewusst und von all den Härten sei ihnen gar nichts bekannt gewesen. Wer mit Flüchtlingen und MigrantInnen zu tun hat, muss mit größtem Elend rechnen, das hinter der lächelnden Verkaufsfassade von SexanbieterInnen verborgen sein kann. Nicht um deshalb solche Kontakte zu meiden oder Sozialarbeit statt Erotik zu praktizieren. Aber um die begehrte Operettengestalt des "Zigeunerjungen" oder des "Thai-Boys" in ihrer Inszeniertheit für den deutschen Konsumenten vor lauter sexueller Faszination nicht zu übersehen. Mit solchen Einsichten, wie Miro sie für seine Person offeriert, muss der Appetit auf solche Jungs keinesfalls kleiner werden, das wäre auch überhaupt nicht im Interesse dieser Anbieter. Allenfalls könnte der exotische Appetit auf den sexuell besetzten "Migranten-Thrill" vom schlechten Gewissen bedrängt werden, das hinter seinen Scheuklappen vielleicht schon ahnte, was an Schrecken hinter so einem Jungengesicht verborgen sein könnte, aber ganz bewusst nichts wissen wollte. Doch wenn es einfach nur egal ist, ob und wie mein immerhin von mir begehrtes Lustobjekt hinter seiner Fassade leidet, oder wenn gar sein Leid es ist, das mich scharf macht, hätten die fundamentalen Kritiker von Prostitution an und für sich (und von Jungs bzw. abhängigen MigrantInnen ganz besonders) ein humanitäres Argument in Händen, das in der Tat schwer zu entkräften wäre.

Es ließe sich darüber streiten, ob Sexualität bei Miros biographischen Fluchtversuchen ein zentraler Faktor ist. Seine sinnlichen Erfahrungen mit Männern und selbst der missglückte Versuch mit dem polnischen Mädchen wirken vergleichsweise normal und harmlos, besonders im Gegenüber zur Herkunftsfamilie. Bei all dem geschilderten Elend fällt aber auf, dass Miro von "Glück" nur im Zusammenhang mit seinen Freiern und Freunden erzählt. Mit seiner Mutter ist es auch mal fünf Minuten lang halbwegs erträglich; doch gegen die verlässliche Zugewandtheit eines "Kinderkarsten" vom Bahnhof Zoo oder gegen die hingabevolle Liebe seines Partners Robert sind selbst die schönsten familialen Augenblicke bloß Pausen im Bombenhagel. Dennoch und deshalb kommt Miro von dieser Familie nicht los. Der gewissenlos explodierende Schrecken hat offensichtlich seine Faszination und schlägt ihn in Bann. Wie unsichtbar angekettet, handelt er sogar auf telefonischen Befehl. Man ist an Woody Allan erinnert (Der Jadeskorpion), der als "Schläfer" auf das telefonische Zauberwort "Madagaskar" absurde Diebstähle verübt. So hart Miro mit seiner Familie ins Gericht geht, seine Zornausbrüche und die Egozentrik seines Weltbildes sind ihr nur allzu ähnlich. Nicht selten kam Robert mit einem blauen Auge zu den Beratungsstunden und oft mit wundem Herzen. All dies in seinen obsessiven Verflechtungen ist Miros Sexualität, Miros Homosexualität. Auch die bedrohlichen Aufenthaltsmodalitäten und der schlechte Status der Roma überall auf der Welt gehen in die Weisen seines Verlangens und ihre Realisierungen ein. In diesem Sinne ist Sexualität auch für Miros Biographie ein zentraler Faktor und eröffnet ihm die bislang hoffnungsvollsten Fluchtwege.

Die zahlreichen Fluchtversuche aus dem Krieg, aus der Familie, aus dem Kinderheim, aus der Sucht etc. führten auf tragische Weise stets wieder in Miros "Existenzgefängnis" zurück. In verschiedener Hinsicht drängt sich der Eindruck auf, dass er sich im Knast am wohlsten fühlt, wenn die Gewalt der Gitterstäbe sein persönliches Chaos auf eine erzwungene Form bringt und die Übermacht des "Schicksals" unausweichlich spürbar wird. Überall machte Miro Ausbruchsversuche, nur nicht aus dem Gefängnis. Das scheint in seinem Falle nicht nur an der Ohnmacht des Häftlings im allmächtigen Apparat zu liegen, sondern auch an der psychischen Entsprechung zur Knaststruktur. Eingesperrt zu sein inszeniert, wie er sich selbst in der Welt empfindet. Nicht dass er bewusst "gerne" im Gefängnis gelebt hätte oder bei den Urteilsverkündungen Freudentänze aufgeführt hätte. Im Gegenteil, er jammerte stets und schrie nach Gerechtigkeit, weil die Strafen immer strenger und zeitintensiver jede freie Entfaltung seiner Persönlichkeit beschnitten haben bis hin zur Abschiebung in Handschellen. Dennoch war dieses Jammern entspannter und irgendwie "befreit" im Vergleich zu dem Gejammer seiner knastfreien Zeiten, in denen er sich sein unsichtbares Alltagsgefängnis selber errichten musste, um zu sein, wie er sich sah und wohl noch immer sieht. Es ist ein bisschen wie mit den bettelnden Pennern in den U-Bahnhöfen. Sofern sie deutsche Staatsangehörige sind, müssten sie nicht im Dreck sitzen, sich anstarren und beschimpfen lassen, denn ihnen steht Sozialhilfe und Wohngeld zu. Aber sie "stehen" auf diese Selbstinszenierung, ohne Not in Not zu sein. Sie wollen, was die meisten entsetzlich finden und zu vermeiden trachten: angestarrt und beschimpft werden aus Gründen ihrer persönlichen Lebensgeschichte, nicht nur am Rand von U-Bahnschächten. Freilich ist diese "gestalttherapeutische" Interpretation nicht die ganze Wahrheit. Denn Drogen lassen sich von dem Bisschen Sozialhilfe kaum bezahlen und Ämter machen nicht selten Probleme, wenn ein fester Wohnsitz fehlt. Auch "psychodynamisch" stimmt diese Jammertheorie nur teilweise. Denn Miro konnte auch ganz anders sein, die Freiheit genießen, tanzen wie ein pubertärer Michael Jackson, von Herzen lachen und kindlichen Blödsinn machen. Miro liebte es gelegentlich sehr, mit Freunden und/oder Freiern geil im Bett herum zu spielen. Diese unkomplizierte Freude währte aber stets nur ganz kurz, denn die Faszination der nackten Gewalt war stets größer und zwar in jeder denkbaren Form: von der kleinkriminellen "Action" mit Polizeikontakt, Gerichtsverhandlung und Inhaftierung bis zur Abschiebedrohung, die mit jedem geklauten Portemonnaie an Substanz zulegte. Es gab und gibt auch Miros Familie, die ihn grausam zwingt und zum Klauen abrichtet. Es gab und gibt auch staatliche Härten, die ihm nahe legen, gleichfalls gnadenlos zu handeln. Aber die stärkste Kraft seiner Verhältnisse ist vermutlich die Faszination der Gewalterfahrung an und für sich. Psychoanalytisch betrachtet handelt es sich um eine Verkoppelung des Begehrens mit erlittener Gewalt, auf die Miro existentiell "steht". Er machte von Kleinkindsbeinen an lauter Erfahrungen, die Wohlbefinden zugleich an Schmerz banden. Alles Angenehme war im nächsten Augenblick schon wieder radikal bedroht, wie wenn ein Sommergewitter in den Bergen die eben noch idyllisch duftende Alpenwiese binnen Minuten in ein frostiges Schneefeld verwandelt. Der staatliche Zwangsapparat inklusive seines xenophoben Abschiebereflexes kollaboriert mit diesem psychischen Set wie die Freundin des Alkoholikers, die ihm auch noch mitten in der Nacht das Bier ins vollgepisste Bett hinterher trägt, das Leergut mit Hingabe entsorgt und Tag für Tag gerne die Laken wäscht. Wer derart repressive Angebote macht, muss sich nicht wundern, wenn "Repressions-Junkies" wie Miro gierig darauf eingehen. Einzig seine Männerfreundschaften gewähren bis heute kleine Fluchten und würden auch die große Flucht in ein angepassteres Leben nach Kräften unterstützen, wenn da nur was zum Unterstützen wäre. Doch gegen Miros Freiheitswillen sind ernste Zweifel angebracht. Er hätte sich zwar gewiss sehr über einen legalen Aufenthalt gefreut. Aber ob er daraus etwas Freies und Frohes hätte machen können und wollen, ist höchst ungewiss. Einerseits hat ihn die behördlich geradezu hinterhältige Situation für Flüchtlinge fraglos extrem entmutigt. Andererseits waren die Hilfsangebote weit größer und zahlreicher als üblich. Es gibt daher guten Grund zu der Annahme, dass Miro auf die repressiven Schrecken in der geschilderten Weise scharf ist. Gequält zu werden und gelegentlich auch selbst zu quälen, scheint ihm sinnliche und sinnstiftende Horizonte zu eröffnen, an die keine andere Erfahrung in Größe und Bedeutung heranreicht. Die Engherzigkeit des Staates und die Folterkammern seiner Familie funktionieren in dieser sexuellen Sicht im Dienste derselben Attraktion. Gespielter Sadomasochismus, bei dem alle Beteiligten "Stopp!" sagen können und der Spuk ist augenblicklich vorbei, muss ihm als lächerlicher Kinderkram erscheinen gegenüber der humanen Wahrheit, die er kennt und in einem archaischen Sinne kultisch verehrt. Die besinnungslose Tobsucht, mit der sein großer Bruder auf die Ehefrau einsticht, wobei diese nur knapp dem Tod entrinnt, ist das "Mysterium tremendum", das ihn existentiell zittern macht. Nichts erscheint Miro größer als die ungebändigte Grausamkeit. Obwohl er keinerlei religiösem Einfluss ausgesetzt war, interpretiert er seine Lage vor Gericht und in Haft "wie Jesus", d.h. in den Händen der letztlich göttlichen Übermacht mit Familie und Staat als ausführenden Organen und ihm selbst als Opfer. In Verbindung mit seinem Beten in Haft und den drei aufgerichteten Kreuzen (statt der üblichen XXX bei anderen Analphabeten) unter die Knastpapiere hat seine Selbstsicht etwas "Passionsmystisches". Seine Schilderungen des Unterworfenseins haben dazu noch (oder gerade) im größten Grauen etwas gar nicht subtil Erotisches, das seine nach bürgerlichen Maßstäben inakzeptable Qualität der gefährlichen Realität verdankt, zum Opfer zu werden oder zum Opfer zu machen. Es ist die gewaltsame Todesnähe, die Miro gewissermaßen kultisch verehrt, in der er Sinn und Sinnlichkeit findet bzw. von ihr stets neu gefunden wird. Miro scheint fast ungebrochen fasziniert zu sein von ihrer übermächtigen Wahrheit.

Aus meiner Sicht schließen sich an dieser Stelle einige philosophische Überlegungen an, für die Miro nicht quasi als Kronzeuge herhalten soll. Ich glaube kaum, dass ihn derartige Gedanken beschäftigen. Es sind vielmehr meine persönlichen Reflexionen zu Gewalt und Todesfaszination, die es evtl. erleichtern, den Blick dieses Essays auf Miro nachzuvollziehen. Für mich ist Gewaltsamkeit keine Wahrheit "unter" dem Humanum, in den Tiefen der Kultur oder der Einzelpsyche verborgen. Sie strukturiert vielmehr jede menschliche Lebensäußerung in der gesamten "Fläche" ihrer Entfaltungen, in der Prähistorie schon und auch heute, in der Zweiten Moderne. Diese kulturbegründende Rolle des Sterben müssens lässt sich wohl nicht beweisen, aber vieles spricht dafür, zumindest als ein wesentlicher Faktor des Humanum neben anderen. Der Todesschrecken bildet dabei keine "überhistorische Konstante", sondern tritt in den jeweiligen Zwangsgestalten auf, die eine kulturelle Situation bereitstellt. Staatsterror oder Ausländerrecht haben in ihrer Unerbittlichkeit etwas mit dem Tod gemeinsam. Sie produzieren Opfer, deren Leid jenes Leid erinnert, das auf alle Menschen spätestens im Sterben wartet. Jeder TV-Konsument kennt die schreckliche Faszination von Leichenbergen oder Gräueltaten, wenn wir uns angewidert vom Bildschirm abwenden oder entsetzt hinstarren müssen. Manche werden dann unsagbar traurig oder nutzen die Energie dieses Schreckens, um über Möglichkeiten des Engagements für eine bessere Welt nachzudenken. Es gibt aber auch die Opfergeilheit, die, oft uneingestanden, einen erotischen Kitzel in der Magengrube auslöst, nicht nur bei Vergewaltigungsgeschichten aus aktuellen Kriegen und gar nicht selten im "selbstlosen" HelferInnentum verborgen. Doch ganz gleich, ob diese Empfindung angesichts gequälter Menschen eher anti oder eher pro Opfer zutage tritt, sie markiert den Platz des jeweils aktuellen Opfers im Zentrum gesellschaftlicher Prozesse. Die Abschaffung des Opfers in diesem Sinne scheint ein vergebliches Unterfangen, solange Menschen sterben müssen und kultisch-ästhetische Bedürfnisse entwickeln, mit dieser existentiellen Zwangslage umzugehen. Miros Lüste, nicht seine Texte, erinnern aus meiner Warte betrachtet daher der erotischen Poesie George Batailles, sein Stil als Stricher dem Leben Jean Genets. Mit solchen Vergleichen geht es mir nicht um eine literarische Verklärung dieses hoffnungsarmen Schattendaseins, sondern um die Positionierung dessen, was mir an Miros Leben stark erscheint.

Wenn Erotik zwar vielleicht keine "Antwort", aber eben doch eine, wenn nicht gar die typisch menschliche Umgehensweise mit dem Sterbenmüssen ist (im Unterschied zum tierischen "Trieb"), dann "offenbart" die ungezügelte, sinnlich erfahrene Gewalt den Ausgangspunkt jeder möglichen Frage nach Sinn. Nicht als Negativfolie, durch deren aufklärerische Überwindung erst Sinn entstünde, sondern als vieldeutige Geburtshelferin der Obsessionen und Lüste. Wer sich wie Miro in seinen äußerlich wahrnehmbaren Aktionen nicht von erotisch besetzter Gewalt distanziert, weist sanftere Akteure auf eine Wahrheit ihres domestizierten Tuns hin, die sich in ihrer inneren Struktur als Faszination von Tod und Gewalt gleichwohl findet. Der verbreitete Hass auf Existenzen wie Miro oder "die Roma" erklärt sich zumindest auch aus diesem ungeliebten Hinweis. Und aus dem Erschrecken vor sich selbst, das mit dem Abschübling des Landes verwiesen wird, jedoch ohne zu verschwinden. Keine Clubszene, kein noch so raffiniertes Sex-Accessoire kann das existenzielle Erzittern spielerisch ersetzen, das uns vom Tod her ergreift. Man kann anderer Meinung sein über die Rolle der Sterblichkeit für menschliche Kulturen und viele besonnene Postmoderne sehen "anthropologische Konstanten" zurecht sehr kritisch. Dennoch ist Miros Leben ein einziges, hochkomplexes Argument für De Sade, Bataille und Jellinek.

Vor Gericht wurde wiederholt Miros Homosexualität bezweifelt. Er habe gar keine Kindheit gehabt, die im Sinne westlicher Emanzipation eine sexuelle Vorliebe hätte ausbilden können. Seine wesentliche Erfahrung sei die des Missbrauchs, sowohl familiär wie als Stricher. Daher müsse offen bleiben, ob Miro für schwul zu gelten habe oder nicht. Derlei "Tiefenpsychologie" hat entscheidende Schwächen und wird Persönlichkeiten von Miros Schlag nicht gerecht. Was lässt sich schon sinnvoll darüber sagen, was Miro in irgendeinem tiefsten Inneren seiner Seele "ist"? Und wenn es dazu etwas zu sagen gäbe, was fügte solche Theorie der schwulen Lebenswirklichkeit dieses Jungen hinzu? Es hatte ja in keiner Weise sozial nahegelegen, dass der Romajunge auf den Kontakt mit Männern aus ist. Im Gegenteil, denn bei aller scheinbaren Prinzipienlosigkeit wachen die meisten Roma mit rigider Sittenstrenge über die Heterosexualität und eheliche Treue ihrer Kinder, so auch Sabanovics. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass Miro mit Frauen auch gute Erfahrungen machen könnte, aber gedrängt hat in dazu bislang offensichtlich nichts. Das einzige Erlebnis mit einer Frau, für das er außerdem eine hohe Haftstrafe erhielt, war jener in der Tat inakzeptable Vergewaltigungsversuch gegen eine polnische Spielkameradin, bei dem der sonst ständig notgeile Junge keinen hoch bekam. Meine Theorie dazu ist, dass es ihm eigentlich um den attraktiven Mittäter ging, den er endlich einmal erregt zu Gesicht bekam, während ihn selbst das Mädchen so offensichtlich kalt ließ. Vielleicht ist Zweigeschlechtlichkeit für Miro aber einfach nicht das Thema, das es für emanzipationsbegeisterte Mittelklasseschwule in Deutschland oftmals darstellt. Sein doppeltes Coming out als Schwuler und als Stricher hat jedenfalls nichts Dramatisches. Es ist sein Schritt aus der Familie in eine relative Freiheit bei Freiern und Freunden. Dramatisch daran ist einzig, dass und wie dieser Befreiungsschritt bedroht wird, wie Miro zum Rückzug in unfreiere Muster genötigt wird und vermutlich auch genötigt sein will. Die konfliktreduzierte Bravheit westlich-emanzipierten Schwulseins mag ihn immer neu in die Arme familialer Irrationalität katapultiert haben, wo alles gemein und hinterhältig ist wie letztlich das Sein an sich, dafür aber überzeugend wahr wie das tödlich ernste Leben, kein Sandkasten für wattegepackte Homos. Vielleicht sind derlei Überlegungen aber auch bloß wattegepackte Sichtweisen eines bürgerlichen Schwulen, der "todesphilosophisch" Inakzeptables verharmlost, um in Miros Biographie dokumentiert zu sehen, was er an Blutigkeiten zwar phantasiert, aber nie zu realisieren wagen würde: bürgerlicher Selbsthass sozusagen.

Miros Stricherphilosophie ist jedenfalls undramatisch und pragmatisch. Da ihm viele seiner Sexkontakte auch Spaß machen, sucht er mit Erfolg eine Balance von Lust und Geschäft zu erreichen. Gelegentlich spielt er die verehrte Kokotte, was dem Operettenzigeuner gut zu Gesicht steht. Er mietet sich für sexuelle Dienstleistungen bei Freiern ein und lässt sich verwöhnen, auch heute, nach seiner Abschiebung. Er findet dabei gleichaltrige Freunde, auch ohne Sex, aber nicht unverliebt. Das Blatt dieses Freiheitsschritts wendet sich erst, als er immer mehr Geld für Drogen braucht, die er nicht verträgt. Sein Drogengenuss funktioniert wie der Genuss seiner Familie, wie Knast und Abschiebestaat. Er erfährt sich übermächtig zum Opfer tobender Empfindungen gemacht, was ihn zugleich bis zum Irrsinn fasziniert und anwidert. Die Klappe am Herrmannplatz wird "seinetwegen" geschlossen wie Deutschland ihn zunächst einsperrt und schließlich ausweist. Sein Platz in dieser Welt ist gewissermaßen das Unmögliche. Es ließe sich mit guten Argumenten an Miro kritisieren, dass er die klassische "Babynummer" aller Junkies "abzieht", aber gibt es nicht auch einen erotischen Markt, der solcher Existenzen bedarf? Wäre dem so, und vieles spricht dafür, dann würden die "Braven", auch die braven Schwulen, solche schlimmen Jungs zur Befriedigung ihrer Sehnsucht nach anderem als Bravheit quasi mit produzieren. Wie bei Slavoj Zizeks Interpretation der Balkankriege, vor denen Miro mit seiner Familie hierher geflohen war, wäre der westliche Blick "durch das Fernsehen hindurch" in umgekehrter Blickrichtung genauso verantwortlich für Pogrome und Bomben wie die Kriegsverbrecher vor Ort. Das gilt auch und besonders "kulturatmosphärisch", nicht nur beschränkt auf die sexuelle Aktion. Die Belanglosigkeit herrschender Westlichkeit mit ihrer öden Spaßgesellschaft legt dazu folgenden Komparativ nahe: Je geregelter die rechtsstaatlich gesicherte Menschenwürde, desto stärker der Wunsch nach tatsächlichem, nicht bloß gespieltem Ausbruch in andere Freiheiten als die leider nur möglichen. Konnte der Psychoanalytiker Jacques Lacan in den 50er Jahren noch (wie der heilige Paulus im Römerbrief) den "Knoten von Gesetz und Begehren" beschwören, dass der Wunsch nach "Überschreitung" erst durch das Verbot entsteht, so ist die postmoderne Logik von Miro und den Balkankriegen zugleich marktorientierter und gewissermaßen "metaphysischer". Sie leben im undisziplinierbaren heißen Zentrum des Begehrens namens "Opfer", das moralische Erwägungen kalt lässt. Diese "Opfermenschen" (in beiden Positionen von Schlächter und Geschlachtetem) schrecken nicht zurück vor Vergewaltigung und Missbrauch. Denn dass es zumindest jeweils irgendwem schrecklich weh tut, ist ja zentraler Bestandteil des begehrten Faszinosums. Zugleich folgen sie dem marktlogisch kategorischen Imperativ, dass im Dienste des Genusses jedes Opfer Sinn hervorbringt. Dabei geht es nicht um gut und böse, sondern um Sinnlichkeit contra Langeweile. Wer es mit Bataille religiös sehen möchte: um Religion contra Moral.

Die Bejahung des Opfers scheint heute das größte Tabu westlicher Zivilisation zu sein, obwohl und weil sie soviel Opfer produziert, wie keine Epoche zuvor. "Gut" ist, wenn es gelang, das zum-Opfer-werden zu verhindern oder doch zu mildern; "böse" dagegen, wenn keiner einschreitet oder zumindest widerspricht. Das gilt ganz besonders für die Problematiken sexuellen Missbrauchs und für Vergewaltigung, die zu Superlativen des Verbrechens avancierten. (Bomben auf bewohnte Landstriche schützen die ebendort vergewaltigten Frauen vor den Vergewaltigern, wie wahr.) Auch unter diesem Blickwinkel ist Miros Leben eine herbe Anfrage an herrschende Wertmuster. Denn was hierzulande als absolut verpönt gilt, weil Miro noch kaum jugendlich genannt zu werden verdiente, als er damit anfing, ist klassischer Kindsmissbrauch. Der geschieht ja auch oftmals "freiwillig", weil das Kind sich der erlebten Attraktion für den Erwachsenen erfreut ohne wirklich zu wollen, worum es dem "Täter" geht. Dazu kommt im Falle von Stricherei noch die Lehrzeit im Bahnhof Zoo und entsprechenden Etablissements im Berliner Kietz, wo erwachsene Männer die emotionale und ökonomische Not kleiner Jungs ausbeuten, auch wenn sie teilweise sehr gut dafür bezahlen. In der politisch korrekten bzw. psychosozialen Sicht zahlen dagegen die Jungs einen inakzeptabel hohen Preis, nämlich den einer psychischen Deformation, die sie ihr Leben lang nicht nur sexuell behindert. Bei Miro tritt noch erschwerend hinzu, dass seine familiäre Konstellation eine extreme Traumatisierung vermuten lassen muss, manche nennen so etwas eine ödipale Katastrophe. Aus all diesen und sicherlich weiteren Gründen war Miro zu Beginn seiner sexuellen Aktivitäten besonders ausbeutbar und ist das als Elendsmigrant bis heute. Denn obzwar altersmäßig erwachsen, gelingt ihm auf Dauer einzig dieser Gelderwerb, selbst in Serbien und Bosnien, wo sich das Anschaffen nicht so lohnt wie in Berlin und die Not der Stricher groß ist. Das Erstaunliche an seiner Erzählung darüber ist nicht so sehr, dass ihm die Freier noch besser gefielen als Eltern und Brüder. Das liegt sogar nahe, denn selten ist hierzulande von derart brutalen Kindheiten zu hören. Das war und ist ja gerade seine spezifische Ausbeutbarkeit, dass er so namenlos bedürftig und verletzt war, dass er alles mögliche akzeptieren konnte. Aber da ist noch etwas anderes zwischen Miros Zeilen lesbar, etwas von "Opfer-Wandlung" wie es die Differenz der beiden englischen Worte für Opfer ausdrückt: vom geschlachteten victim zum hoffnungsvollen sacrifice. Dieser Übergang vom vielleicht tatsächlich ausgebeuteten Strichjungen zum verliebten "gerontophilen" Jugendlichen geschieht in Miros Geschichte fließend und beginnt in einer Ver/Kaufsituation seines Körpers im Bahnhof Zoo. Das mag manchen wie Sklavenmarkt erscheinen und in der Antike kam es ja auch vor, dass Herr und Knecht am Ende oder inmitten aller Demütigungen einander begehrten. Aber Miro ist kein Sklave und diese Gesellschaft hält keine Sklaven, auch wenn manche soziale Ungerechtigkeit oder die Welthandelspolitik Anlass geben, so zu tönen. Die Migranten, Flüchtlinge im Besonderen, haben in der Tat nichts zu lachen in Deutschland, aber Sklaven sind sie nicht. Eher schon im Gegenteil, sie sollen gar nicht da sein, zumindest nicht an dem Platz, wohin sie geflohen sind. Sie sind gewissermaßen das Unmögliche in Gestalt des Unerwünschten. Darum dürfen sie gleich gar nicht arbeiten, auch wenn sie wollen, im Gegensatz zu Sklaven, die dazu gezwungen und einzig dafür versklavt werden.

Der spannende Beitrag zum Thema "Missbrauch" zwischen Miros Zeilen ist die positive Gesamtsicht der Stricher-Freier-Szene, wie er sie kennengelernt hat. Mich erinnert das an den öffentlichen Meinungswandel bezüglich schwuler Lebensformen in den letzten Jahrzehnten. Es gibt zwar nach wie vor (auch die alten) Vorbehalte und Vorurteile, aber eine eindeutig negative Sicht auf Schwule und schwules ist gesellschaftlich passe. Warum soll also Miros ausgesprochen positiver Kontrapunkt, der für ihn das Etikett "schwul" trägt und mann-männlich sinnliche Qualitäten entfaltet, nicht auch unter den Bedingungen von Prostitution und Promiskuität statthaben? Dass ich diesen Kontrapunkt "positiv" nenne, bitte ich nicht mit gut, brav oder angepasst zu verwechseln. Denn das macht Miros (auch schwuler) Stil in äußerster Schärfe klar: derlei interessiert ihn nicht. "Positiv" ist Miros schwule Position als Stricher und privat, im Unterschied zur Negation fast aller anderen Lebensbereiche, repräsentiert von Familie und Staat. "Positiv" meint nicht "problemlos", wohl aber relativ glückvoll den Anderen und dem eigenen Leben zugewandt. Dazu gehört bei Miro auch, dass seine Liebhaber mit cholerischen Ausbrüchen zu rechnen haben. Dass sie dennoch bei ihm bleiben, ist ein schwer zu entkräftendes Indiz für die Qualität seiner freundschaftlichen Hingabe, nicht nur im Bett. In keiner anderen Kategorie von Miros Lebensäußerungen überwiegt die Lebensfreude so eindeutig die Gewaltfaszination. Neben den Chancen nichtfamilialen Aufatmens zwischen den Foltersessions zu Hause muss es wohl die menschliche Qualität der Freier und väterlichen Freunde sein, die ihn mit ihrer Großzügigkeit und Warmherzigkeit überzeugten. Schwules Leben genoss Miro als Deserteur aus dem blutigen Familienkrieg, und nahm die finanziellen Annehmlichkeiten gerne dazu. Die Art, wie er über seine Männer schreibt, verrät deutlich, dass das Geschäft dabei allenfalls von drittrangigem Interesse war. Er ist zwar ein Automatenspieler und die verplempern bekanntlich Unsummen, wenn's drauf ankommt, so auch Miro zum kopfschüttelnden Erstaunen seiner Freunde. Aber die Preise hochtreiben und Beischlafdiebstahl gab es bei Miro in der Berliner Zeit nur, um die Geldgier seiner asozialen Familie zu stillen, was außerdem stets nur sehr kurzfristig gelang, wie zu lesen war. In der Begeisterung seiner Hingabe an Männer dagegen erfuhr Miro auch das gewaltsam-tödliche Geheimnis des Menschseins in seiner wohltuenden Undisziplinierbarkeit, nicht bloß im Faszinosum der Gefahr und der Qual: sinnlicher Sinn für ein Leben, das sich zu leben lohnt.

Die besorgte Frage nach einer etwas lebbareren Balance muss sich an solche Überlegungen anschließen, soll der Kontakt zwischen Strichern und Freiern nicht dem beiderseitigen Zynismus preisgegeben sein. Das aber wäre fatalistisch und herzlos, außerdem eine irreführende Verkennung der Stärken, die Miros Lebensweg mit seiner Antibürgerlichkeit anbietet. Miros Berliner Zeit lässt sich als schwule Liebesgeschichte mit nicht wenigen Männern dieser Stadt deuten. Am exkommunizierten Ort und als exkommuniziertes Tun, findet die entscheidende Wandlung der Gewaltfaszination statt: im Bahnhof Zoo und als Mann-Kind-Sex. Das Faszinosum ist vorher wie nachher die unbeherrschbare Sinnlichkeit, das Leben als Fest, das Andere im Gegenüber zum domestizierten harmlosen Dahinvegetieren zwischen Plattenbau und Arbeitsplatz. Die zwischen Familienterror und Abschiebestaat einsetzende Geschmacksveränderung ist allerdings keine Unfallversicherung. Und so wie es aufgrund des Telefonkontaktes mit Miro scheint, hat seine momentane Elendsstricherei auf bosnischen oder serbischen Straßen ebenfalls mehr mit dem Vorurteil über Straßenstrich gemein als mit Freiheit oder gar Glück.

Um hier weiter zu kommen, muss die Leserin die generalpräventive Sicherheitslogik westlicher Gesellschaften einen Augenblick lang vergessen. Denn wer rundum sicher gehen will, wird Miro genauso zu verhindern suchen wie z.B. gewaltbereites Neonazitum. Lenken wir darum den Blick kurz von Miros Biographie auf die sexuelle "Landschaft" in der sein Leben stattfindet. Aufgrund der medienkulturell zelebrierten Vielfalt sexueller (und generell ästhetischer) Stile entsteht der Eindruck, jede "Spielart" sinnlicher Neigung gehe gewaltfrei zu realisieren, selbst der gewalttätigste Sadomasochismus. Der verträumte Schlummer auf einer Waldwiese im Bienengesumm, der kleine Finger in der verzückten Ohrmuschel, die drogengeförderte exzessive Ekstase, Monogamie, Promiskuität, homo, hetero oder polymorph, alles Mögliche ist zunächst einmal genau das. An dieser sinnlichen Lektion postmoderner Verhältnisse ist ganz offensichtlich etwas überzeugendes, denn in der Tat kommt es für zwischenleibliches Glück in keiner Weise darauf an, was erotisch in praxi "gemacht" wird. Es gibt in der sinnlichen Realität keine Hierarchie der möglichen Verrichtungen, wie das die historische Fruchtbarkeitsmoral, die PorNO!-Kampagne der 80er Jahre oder auch die aktuelle AIDS-Prävention geschichtsmächtig behaupte(te)n. Radikal alles ist erotisch möglich und wünschenswert, vorausgesetzt mein Angebot trifft auf ein Interesse, ihm vielleicht als Objekt seines Begehrens dienen zu können. Doch an dieser Stelle gabelt sich der Weg. Wer diese Freiheit als neoliberale Marktstrategie deutet und zu "nutzen" sucht, wird dazu tendieren, die im Konsens initiierte sexuelle Verrichtung als (guter alter Marx'scher) Fetisch zu zelebrieren und von sich und den PartnerInnen abzuspalten. Das erotische Glück geschieht dann nicht mehr im Horizont der Sterblichkeit der begehrten Anderen, in Zuneigung und Wärme mit ihren Begrenztheiten, Verrücktheiten und Obsessionen, sondern wird technisch handhabbar. In diesem Sinne funktioniert die Spaßkultur wie das Vorurteil zu Prostitution. Dieser hochkulturelle Weg der Lüste ist aufgrund seiner konsensuellen Struktur zwar moralisch nicht verwerflich, verfehlt aber Miros spezifische Chancen. Mit dieser erotischen Kultur ist es ein wenig wie bei Heinrich Heines Einschätzung des Protestantismus: "So rein wie ein Schluck Wasser. Er schadet nicht, aber er nützt auch nichts." Die andere Spur der erotischen Weggabelung kann den Traum vom Glück mit anderen, nicht bloß mit ihren Körperteilen oder bestimmten Handlungen derselben, nicht vergessen. Auch nicht das Bedrohliche der Sterblichkeit, das in jedem anderen Leib wie in dem eigenen steckt und ihn bestimmt. Das bedeutet nun gerade nicht, dass mit den Antibürgern dieser Erde immerzu "authentische" Begegnung und mehr geschähe. Im Gegenteil, im Lichte dieses hoffnungsvollen Anspruchs fallen die Schatten besonders tief und schroff. Denn sie missachten schließlich all die Zäune herrschender Sicherheitsprävention, die auch viel unnötiges Leid vermeiden hilft, und entscheiden sich angesichts der Faszination des erfahrenen Anderen gegen die dröge Normalität, ähnlich wie gewaltgeile Familien oder Neonazis. Aber nach dieser antibürgerlichen Grundentscheidung (heute sagt man vielleicht eher: gegen die Neue Mitte und ihren verlogenen "Aufstand der Anständigen") folgt die weitaus spannendere und weiterführende Alternative: Gewalt oder Liebe. Die auch erotische Attraktion, die begehrte Andere sind, provoziert die gewaltreduzierende Empfindung, dass ihr Leid oder gar ihr Sterben skandalös sind, nicht hinnehmbar und dennoch unausweichlich. Das ist auch eine Gestalt des Schreckens, des Grauens vor dem Tod. Aber das erotische (oder allgemeiner: das ästhetische) Opfer der Hingabe aneinander vermittels der mehr oder weniger verfemten Handgreiflichkeiten, Düfte und Atmosphären, die uns "anmachen" und unsere Glückspotentiale ausmachen, findet manchmal eine Verwandlung der Gewaltfaszination statt. Aus "Repressionsjunkies" wie Miro werden Kuss für Kuss einfühlsame Liebhaber. Der Tod und die Erotik lassen sich zwar nicht gegeneinander ausspielen wie in der TV-Show "Geld oder Liebe", denn das eine ist der Umgang mit dem anderen, zumindest in der Sichtweise, der sich dieser Text verpflichtet fühlt. Der menschliche Tod und die Erotik sind in dieser Sicht ja gerade eben keine Naturereignisse wie das Verrecken von Tieren oder deren Fortpflanzungstrieb, sondern vielfältiges Produkt kultureller Reflexion. Das ist ebenso "archaisch" wie tagesaktuell, aber in keiner Weise irgendwie "animalisch". Zu simpel wäre darum auch die alte Hippieparole: "make love not war!", obwohl Ralf Königs Knollennase Paul schon irgendwie auch recht hat, wenn er vorschlägt, dass Nixon (Bush) und Hussein (Bin Laden) besser einander ficken sollten, und Krieg im kleinen und großen würde überflüssig bzw. durch weniger blutigen gender-trouble ersetzt. Die existentielle Frage, die Miro ist bzw. mit seiner Biographie stellt, nämlich nach seinem Platz auf der Welt zwischen den Gewalten der Liebe und jenen des Todes, zielt darum ins Herz kultureller und besonders interkultureller Prozesse. Wie wäre emotionale Balance und Vermeidung unnötigen Leidens möglich, ohne Spießertum zu verordnen bzw. das nicht Wahre-Gute-Schöne kulturimperial auszumerzen per Knast, Abschiebung oder Krieg? Mit dieser Frage ist Miro ein trefflicher Repräsentant der Problemstellungen herrschender Globalisierung aus Migrantensicht. Miro denkt ganz unpolitisch, aber er wird in einer ähnlichen Weise juristisch bewertet, wie ein arabischer Student 2002, der in einer deutschen Uni als Taliban-Sympathisant auffliegt. Miro und seine Herkunftsfamilie sind so etwas wie ein kleiner "Schurkenstaat", ein ekliger Punkt auf der "Achse des Bösen". Weil Miro nur ganz selten einmal wahr-gut-schön handelt, stellt er in persona die Frage, ob er liebenswert sei jenseits von gut und böse. In der strukturalistischen Logik der "Gabe" (Marcel Mauss) ist er es eindeutig nicht, denn hier wird gegeben, um zu bekommen, do ut des. Aber in der prostitutiven Logik seiner Freier und Freunde ist er sehr wohl liebenswert. Die bürgerliche Wertung wird darin freilich auf den Kopf gestellt, denn was als plumpes Tauschgeschäft ("das älteste Gewerbe") schlechtgeredet wird, erweist sich als wandlungsfähiger Kulturraum, in dem Miro Glück erfährt und schenkt. Das ist niemals immer so und bei Miro schon gar nicht. Aber nach und inmitten all der gewaltsamen Todesfaszination erstaunt doch, welcher erotischen Glut der Junge fähig ist. Die Tatsache, dass Miro all diesen "Missbrauch" durch viel ältere Männer so positiv schildert, diskutiert quer zu herrschenden Einschätzungen. Es wäre an dieser Stelle allzu einfach, auf die entsetzlichen Traumatisierungen zu verweisen, die Miros Werte so radikal verzerrt und pervertiert hätten, dass ihm derlei gefallen konnte, was jedes gesunde Kind abschreckt. Ich "höre" Miros Existenz als ein einziges Plädoyer für weitergehende Interkulturalitäten, für ein auch in seinen Basics pluriformes Humanum. Das schließt Ungleichheiten ein, auch solche, die für die allermeisten in westlichen Gesellschaften grausam, ungerecht und abschaffenswert erscheinen. Doch Miros schrittweise Wandlungen vom Gewaltfan zum Männerverehrer weisen Wege in eine andere Entwicklungslogik als die Hauruckmethodik von Abschiebung und Krieg der Kulturen. Damit dieses Existenzplädoyer eines streunenden Kleinverbrechers jedoch ernsthafte Chancen erhält, muss jemand da sein, der es "hört". Das Multi-Kulti-Menü der herrschenden Spaßgesellschaft müsste die Wagnisse der Wahrnehmung von Fremdem und Anderem nicht nur gelegentlich dulden, sondern aktiv suchen. Im Falle einer Straftat wie jener versucht-missglückten Vergewaltigung bei Miro hätte ein dialogischer Täter-Opfer-Ausgleich dabei absoluten Vorrang vor sinnloser Haftzeit. Alle Beteiligten und ihre Gesellschaftsausschnitte hätten so viel zu entdecken und zu lernen in diesem Austauschprozess. Bei allen "Fremden" würde es darum gehen, sich über die leckeren oder kleidsamen Konsumangebote aus anderer Herren Länder hinaus dem Anderen der Anderen in seiner ambivalenten Fülle zu öffnen. Nur weil Frauen in islamistischen Verhältnissen gequält werden, beweist das allein noch nicht die moralische Überlegenheit westlicher Geschlechterverhältnisse. Erstens wird hier nämlich auch geprügelt, so dass wir Frauenhäuser brauchen, die freilich bei den "Schurken" fehlen. Aber zweitens sind wir derart fixiert aufs Machen, dass wir nichts werden lassen können. Wie sagte Odo Marquard? "Die Philosophen haben die Welt immer nur verändert, es kommt heute darauf an, sie endlich einmal in Ruhe zu lassen!" Damit soll kein Stillstand vorgeschlagen sein, aber dem stets problematischen Humanum die Chance gewährt, durch Geschmackswandlungen von der obsessiven Gewaltverherrlichung zur Hingabe an "fremde" Interessen zu gelangen. Dafür wären ärgerliche Kleinkriminelle so hilfreich mit ihrem auch schwulen Angebot an mehr oder weniger brave westliche Bürger.