Werkstatt schwule Theologie, Nr. 2/2002 9.Jahrgang S.154-168

 

Sebastiana

oder die Neuschöpfung in 7 Tagen

 

Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde.
Die Erde aber war Irrsal und Wirrsal.
Finsternis über Urwirbels Antlitz.
Braus Gottes schwingend über dem Antlitz der Wasser.(1)

Atmet die schwarze Frau in dem weißen, fensterlosen Raum überhaupt? Draußen ist es Nacht, hier drin glänzt ein allzu greller Tag. Sebastianas Schwarz erinnert das ausgeschlossene Dunkel(2) wie eine schwarze Madonna mit Schwertern in der Brust: Mater dolorosa, die Schmerzensreiche. Aus ihrer glänzenden Haut ragen igelgleich rundum Pfeile, deren Spitzen in ihr stecken. Da gebot Diocletianus, daß man Sebastian mitten auf dem Feld an einen Pfahl binde, und sollten die Kriegsknechte auf ihn mit Pfeilen schießen. Da schossen sie so viele Pfeile auf ihn, daß er stund gleich einem Igel.(3) Sebastiana hatte schon als Kleinkind dagegen aufbegehrt und den Spieß umgedreht. Zwar konnte Sebastianas Protest den Pfeilhagel nicht verhindern oder vermindern, wenn es hieß: "Nicht streicheln, wo frau nicht hinfasst! Nicht küssen, denn das tun erst die Großen! Nicht auf Bäume klettern, das tun nur Jungs! Nicht mit der Scheiße spielen, weil das unhygienisch ist! Nicht in der Nase popeln, sonst ekeln sich die andern!". Erste Einschüsse trafen sie bereits, als Licht und Dunkel einander gegenübertraten, lange bevor sie "Ich" denken konnte. Damals war sie noch Teil der gewaltigen Wasser, in deren schaumig wühlendem Gewoge sie trieb. Einschusslöcher markierten seither Schmerzpunkt für Schmerzpunkt Sebastianas Körper. Doch viele ihrer Wundpfeile waren zur Gegenwehr angespitzt, denn niemand sollte ihr je wieder ungestraft zu nahe treten. Die zentrale Stellung der Pfeile im Sebastianskult erinnert Apollo, neben Weissagung, Kunst und Musik auch Gott des Bogenschießens. Mit dem Pfeilhagel nehmen Sebastiansbilder auf eine Episode seiner Legende bezug, die nicht tödlich endet, sondern offensichtlich aus anderen Gründen nachhaltig fasziniert. Noch in der ersten Hälfte des 20. Jh. Waren "Sebastianspfeile" an Devotionalienständen von Wallfahrtsorten erhältlich, die um den Hals gebunden als Schutzamulett gegen Krankheit und andere Leiden dienten. Das hagiographisch "Einleuchtende" am Pfeil ist die uralte Vorstellung vom Blitze oder Pfeile schleudernden (Wetter)-Gott: Leiden als Strafe Gottes. Hinzu tritt die antike Vorstellung vom aphrodisierenden Liebespfeil des Gottes Eros. Amalgamiert mit dem Glauben an die Heil und Heilung bringende Nachfolge des Gekreuzigten bis zu dessen gott-menschlichem Martertod, schlagen Sebastians Wunden ins erlöste Glück um wie bei Jesu Kreuz und Auferstehung. Wer sich daher betend auf Sebastians Wunden bezieht, erhofft genau dieses "Um-Schlagen". Keine Opfer mehr, zumindest nicht freiwillig! Nach außen hin war Sebastiana stachlig, unnahbar und erfolgreich. Diocletianus und Maximianus die Kaiser hatten ihn also lieb, daß sie ihm den Befehl über die erste Cohorte vertraueten, und ihm geboten, daß er immer vor ihrem Angesichte sollte sein.(4) Und doch hoffte sie heimlich auf neues Glück.

 

1

Gott sprach: Licht werde! Licht ward.
Gott sah das Licht: dass es gut ist.
Gott schied zwischen dem Licht und der Finsternis.
Abend ward und Morgen ward: Ein Tag.(5)

Ohr

"Welch ein Albtraum" dachte Sebastiana beim Erwachen. "Wie alle anderen bestand ich größtenteils aus Wasser. Darüber schwebte der allzeit bereite donnernde Sittenwächter mit Bogen und Köcher, dieser miesepetrige Moralist. Meine Körperwelt war wüst und leer. Doch dann trat auf einmal etwas Neues in mein Leben. Ich erwachte aus einem kurzen Schlaf, den ich mir nach der anstrengenden Arbeit des Vormittags gegönnt hatte. Die Abendsonne sandte ihre letzten rot-goldenen Strahlen durch das glaslose Fensterchen in Rundbogenform und kitzelte mich an der Nase. Ich hob meinen Kopf vom Kissen - und sah blutigen Schleim darauf. Nun nahm ich auch den Schmerz wahr, der von meinem Ohr ausging. Ich fühlte mich gemartert. Doch war es ein verblassender Schmerz, eher die Spur einer Erinnerung. Das Ohr eiterte bereits. Beim Versuch, mich zu erinnern, kehrten wunderbar qualvolle Bildfetzen zurück: Eine schmerzhafte Pfeilwunde hatte mein Ohr zerfetzt und ich wollte schon nach oben fluchen. Doch das Geschoss trat wie eine verirrte Harpune aus der Tiefe der Wasser unter mir, meinem inneren Wassergewoge verwandt. Dieser Schmerz irritierte mich. Seine Empfindung in ihrem blutigen Unsinn erschienen geheimnisvoll "logisch". Nichts schien mir je sinnvoller gewesen zu sein als dieser Schmerz. Er beantwortete mit einem Schlag zahllose Schmerzfragen älterer Pfeilwunden. Anders als bei meinen Igelstacheln protestierte hier gar nichts. In der Tiefe der blutigen Wunde wandelte sich der Schmerz in Lust. Oder war beides dasselbe? Ich schüttelte mich wie eine nasse Hündin, um diese Bildfetzen loszuwerden. War ich über dem Nickerchen verrückt geworden? Ich kletterte aus meinem weißen Loch und stieg über die Feuerleiter in den Garten. Neben einem früchtebeladenem Baum, einer Sykomore (6), nahm ich Platz. Hier wollte ich nachdenken. Der Baum schien mir seine leckeren Früchte darzureichen und eine Kinderstimme sang mir ins Ohr: "Neige, Baum, deine Äste, und mit deiner Frucht erfrische deine Mutter!"(7)

Kurz nach diesem Erlebnis brach ich auf, denn ich war zu einer Party eingeladen. Dort verschwand "Ich" in jene unglaubliche Auflösung meines Stachelpanzers, mit der meine Neuschöpfung begann. Ich staunte, denn in der blutigen Tiefe eines Pfeilschachtes gab es noch viel mehr zu durchstoßen, als ich bislang kannte. Um nichts in der Welt hätte ich diesen Pfeil abbrechen wollen. Er war gewissermaßen beidseitig schraubenförmig und drehte sich durch meine stachligen Hüllen und mich selbst in Jemandes Empfinden. Ich erinnere noch gut den fruchtigen Geschmack auf der Zunge, den Duft von gestoßenem Stern-Anis und etwas Scharfes, dessen Name und Herkunft mir unbekannt war. Jemand rührte mich an, bezeichnete gierig den jetzt verletzten Punkt am Ohr und drang genau hier in mich. Genauer: in meinen verletzten Schacht, der unter diesem von Jemand erkannten Schmerzpunkt gähnte wie ein stillgelegtes Krematorium. Jemand spitzte sich im hautigen Berühren zu, wurde Pfeil, Doppelschraube, Bogensehne und Zielscheibe zugleich. Ich fühlte mich als Altar, Opfergabe und PriesterIn in einem. Ich hatte dem Opfer doch abgeschworen und nun diese Verwandlung! Jemand zerstörte meine Grenzposten, zerriss mit meiner Außenhaut, was ich bislang für meine und anderer Leute Grenzen hielt. Jemand hatte meine kindliche Vorliebe für das linke Ohr neu entdeckt, wegen der ich zahllose Klapse auf die Finger bekommen hatte, weil ich unablässig dort popelte. Genau dort also, wo ein alter, vereiterter Anstandspfeil steckte, bohrte Jemand mit seiner Hingabeschraube den verkrusteten Gehörgang entlang und erweckte mein abgetötetes Fleisch zu neuem Leben. Es wurde strahlend hell in diesem brausenden Schallstrom speichelnasser Einlutschungen, was alles veränderte. Es wurde Abend und es wurde Morgen, der erste Tag.

 

2

Gott sprach:
Gewölb werde inmitten der Wasser
und sei Scheide von Wasser und Wasser!
Gott machte das Gewölb
und schied zwischen dem Wasser das unterhalb des Gewölbs war
und dem Wasser das oberhalb des Gewölbs war.
Abend ward und Morgen ward: zweiter Tag.(8)

Schweiß

Das Neue hatte etwas mit Geruch zu tun, was mir zunächst gar nicht aufgefallen war. Jemand war in der folgenden Nacht erneut bei mir, obwohl ich die Tür fest verriegelt hatte. Offensichtlich waren verschlossene Türen kein Hindernis, denn ich meine ganz sicher, alleine nach Hause gekommen zu sein. Nun ging das Wunder in meinem Bett weiter und bohrte sich in meine rechte Achselhöhle. Längst war um sie herum jede Lust im Deoroller vertrocknet, der Hygiene zum Opfer dargebracht und erstorben. Aber heute war ich ungewaschen. Himmlische Düfte brodelten dort, vor denen sich der kostbarste Kirchenweihrauch verstecken muss. Jemand fand die meine und die eigene Faszination daran, darin, dadurch. Das zog die Hingabeschraube in uns hinein und lockte uns zugleich aus uns heraus. Jemandes Auferweckung meiner Schweißlust war nicht bloß vergangenes Kleinmädchenglück im eigenen Saft. Das Unmögliche brach herein und wurde unser Reales. Unsre Vereinigung wurde zur Prophetie, zum Entwurf allgemeinen Glücks, das seiner Verwirklichung über diesen Moment und unsre Personen hinaus entgegenschmachtete. Was utopisch war, ortlos umherschweifend, hatte in unserem Geschnüffel konkrete Gestalt angenommen. Jemand ging vor dem Morgengrauen und ich lag noch wach bis zum Sonnenaufgang.

Da mein Schlaf nicht die ersehnte Erholung gebracht hatte, wollte ich mich bald wieder schlafen legen und ging nur kurz auf die Straße, um eine Kleinigkeit zu essen. Einige Bäckereien und Cafes hatten schon geöffnet. Bereits eine ganze Häuserzeile vor dem Eingang zur nächstbesten Backstube johlten mir zwei dort angekettete Hunde entgegen. Sie gierten sabbernd nach meinen Düften, außer Rand und Band vor Begeisterung. Als ich bei ihnen anlangte, sprangen sie kläffend an mir hoch und suchten mit Nase und Zunge mein Ohr und meine Achselhöhle. Die beiden drinnen frühstückenden Herrchen in ihren feinen Maßanzügen wollten mich sofort schuldbewusst befreien. Doch kaum aus der Tür, rochen auch sie, was die Hunde so faszinierte, aber ihrer Gepflegtheit die Sinne verschlug. Der eine kotzte auf die Straße, der andere flüchtete zurück ins Cafe und beschwerte sich wohl beim Kellner über das Gesindel, das vor der Tür herumlungere. Jedenfalls kam ein Muskelpaket heraus und entfernte mich unsanft unter dem geifernden Gejohle der Hunde. Ich kehrte hungrig zurück und verschlang ein paar halbverfaulte Passionsfrüchte und Granatäpfel, (8) die noch in einer Schale vor sich hingammelten. Sie dufteten himmlisch im Konzert meiner fauligen Wunden. Was immer es mich kosten würde, ich konnte und wollte die Quelle des Ekels nicht bändigen. Die Folgen waren total und durchschlagend. Ganze Pfeilwolken von Abmahnungen zerstörten meine Berufslaufbahn in überraschend kurzer Zeit. Ich wurde zur Strafe degradiert und hatte als kleine Soldatin die Latrinen zu säubern. Sebastiana hatte die Folgen ihrer neuen Faszinationen zu tragen: der zweite Tag.

 

3

Dem Trockenen rief Gott: Erde!
und der Stauung der Wasser rief er: Meere!
Sprießen lasse die Erde Gespross,
Kraut, das nach seiner Art Samen samt,
Baum, der nach seiner Art Frucht macht darin sein Same ist.
Abend ward und Morgen ward: dritter Tag.(10)

Geschlecht

In der folgenden Nacht blieb ich allein. Meine Wunde begann durch mein Begehren nach Jemand frisch zu bluten. Mitten in der Nacht wachte ich schweißgebadet und blutverschmiert auf. Genauer gesagt: ich schreckte hoch und saß senkrecht im Bett. Denn durch die schmalen Schlitze meiner kaum geöffneten Augenlider erblickte ich eine Gestalt, wenn auch ohne Form und Modus. Das geht ja bekanntlich gar nicht, aber ich bin völlig sicher, dass Jemand da war. Erst meinte ich, eine Art Krake mit zahllosen Fangarmen zu sehen, die mein ganzes Zimmer zu füllen schien. Ich spürte ihr gieriges Umsichgreifen am Windhauch auf meiner Haut. Dann wieder sah ich einen riesigen Seeigel mit zahllosen spitzen Bohrern, die mich zum Sieb zu machen drohten. Meine zwecklogische Tagesbrille verwandelte Jemands Anblick in Angst und Schrecken. Die Brille saß durch den gestrigen Karriereknick fest auf meiner schweißhungrigen Nase, drückte sie zusammen und erzeugte Ekel vor neuem Glück. Nur noch das Bettzeug duftete, aber der Duft verzog sich und mit ihm die Seeungeheuer. Mein Zugang ins Reich der Sinne war wieder geschlossen. Ich torkelte etwas unsicher auf die Straße, wo ein letzter Tanzschuppen geöffnet hatte, um etwas für meinen Magen zu erstehen. Das gelang problemlos, denn ich roch gepflegt. Jemand war verschwunden und kehrte fürs erste nicht zurück.

Einigermaßen unzufrieden schlenderte ich in einen nächtlichen Park. Der Mond sichelte orientalisierend über Palmen und Büschen. Es war lau und aus dem Dunkel der Baumgruppen drang sorgloses Lachen. Eine Frau sang herzzerreißende Schnulzen von Liebesschmerz und Glück. An einigen Stellen fackelten Feuer. Die Luft roch nach Wein und Kiff. Ich atmete tief durch und setzte mich auf eine Bank. Einerseits war ich traurig, denn Jemand fehlte mir. Andererseits war diese stachlig-hygienische Normalität so viel weniger anstrengend als ineinander schraubende Wunderfahrungen. Da erschnupperte ich Rhododendoronblüten hinter meiner Bank, die in großen Dolden das Gebüsch übersäten. Oder erschnupperte der Rhododendron mich? Eine Gruppe kleiner Papageien flog kreischend auf, als ich mich umdrehte. Warum schlafen die denn jetzt noch nicht? Der Blütenduft zog mich magisch den großen Büschen zu und ich entdeckte bald einen Eingang in die blühende Welt. Ich musste mich bücken und immer wieder ritzte ich mich an vorstehenden Zweigen, denn es war dunkel hier und der Mond hatte unter dem Blätterdach keine Macht. Schemenhafte Gestalten huschten durchs nächtliche Gesträuch, da roch ich Neues durch die likörsüßen Blüten hindurch. Jemand fasste mich zwischen den Beinen. Ich könnte nicht sagen, ob vorne oder hinten. Aber wo Jemand schnüffelte, schleckte und fummelte, öffnet sich mehr als jeder Arsch, jede Möse und jeder Penis sich öffnen könnten, ein göttlicher Kontrast zu den für gewöhnlich leider festgelegten Menschen. Während antike und mittelalterliche Sebastiansbilder meist einen erwachsenen und bekleideten Mann zeigen, wandelt sich diese Darstellungsform im Rinascimento des 15. Jh. zu der unter "Sebastian" vertrauten Jugendlichkeit, Nacktheit und Androgynität. Berühmt sind die Darstellungen von Pontormo, Mantegna, Perugino u.a., die Mädchen als Modelle für Sebastian wählten, während sie für die Darstellungen einer Venus Jungen bevorzugten. Ein dritter Pfeil durchschraubte meinen Unterleib und riss seine Empfindungspotentiale aus ihren gewohnten Bahnen. Inneres wurde zur äußeren Landschaft. Innen und Außen stülpten unablässig ineinander um, wie ein Handschuh, der permanent hin und hergewendet wird. Zugleich fühlte sich dieser Existenzhandschuh an wie ein Möbiusband, das zwar zweiseitige Assoziationen auslöst, gleichsam Zweiseitigkeit vortäuscht, obwohl es in Wahrheit nur einseitig ist. "In der Intimität sind alle Menschen eins"(11) hauchte Jemand zärtlich in mein Ohr und die Blätter der duftenden Büsche trugen den mystischen Wohlklang in den letzten Winkel des Kosmos. Diese Wahrheit unserer Intimität entstand wie beim Möbiusband durch spiralig gedrehte Korrespondenzen unsrer Sinne. Jemand zelebrierte in und mit mir die Universalität des Fragments möglicher Lüste in ihrer aktuellen Konkretion. Ich erfuhr, wie im bluttriefenden Tiefstpunkt realer Wunden der Umschlag ins Leben beginnt. Der dritte Tag.

 

4

Gott machte die zwei großen Leuchten
die größre Leuchte zur Waltung des Tags
und die kleinre Leuchte zur Waltung der Nacht,
und die Sterne.

Auge

Jemand besuchte mich während der Siesta, die ich in meinem neuen Latrinenbüro verschlief. Im Erwachen drang ein schmerzhafter Pfeil durch mein rechtes Auge tief ins Hirn und rutschte mit einer Lustschraube den Sehnerv entlang, ein besonders verschorfter Pfeilwundenkrater. Unter seinem geronnenen Blut war alles faulig und leblos, der eklige Moder meines normalisierten Blicks, schlecht versteckt unter dem Brett niemals aufständigen Anstandes vor dem Mädchenkopf. Im verletzenden Eindrehen der Liebesschraube änderte sich mein Blick aufs Fleisch ums Ganze. Ich "sah", dass ich nicht bloß der durch Pfeile negierte Körper war. Ich spürte, dass ich auch einer anderen Fleischeslogik folgen konnte auf den Pfaden meiner wandlungspotenten Wunden. Die zweckdienliche Körper-Haltung bleibt zwar immer sichtbar, entweder das Eine oder das Andere, gut oder böse, Mann oder Frau. Doch die Liebespfeile erschaffen mit ihren Einschüssen den zwecklosen Leib um seiner selbst willen. Durchs verletzte Auge bohrte sich ein zweites entzwecktes Denken in mein Hirn, eine Logik jenseits der Vernunft, gleichsam hypervernünftig. Mit dieser neugeschaffenen Sicht der Dinge war ich auch als soldatische Klofrau nicht mehr tragbar, denn ich konnte mich selbst kaum zu meinem Job aufstacheln. Der hätte ja darin bestanden, die himmlischen Düfte zu zerstören, die mich doch so wundersam aus mir herausführten und in Jemand hinein. Ich fiel immer wieder auf, wenn ich bei der Arbeit an besetzten Klozellen schnüffelte. Einmal lag ich auf dem Boden vor einer Klozelle, die Nase unter die Absperrung gepresst und schnüffelte lauthals. Ich rutschte vor Glück über die Kacheln wie ein Salamander. Jemands Stimme hing in den Düften und schrieb sich hauchig als Verheißung in den Dunst: "...zum Niedrigsten vordringen!"(13) Da trat von hinten ein Soldatenstiefel in meinen glücksfeuchten Schritt: "Na, du perverse Sau, das wirst du bereuen!" Es war meine vorgesetzte Klofrau für alle Aborte der Kasernen. Sie machte eine Anzeige mit allen Details, jedenfalls mit deren äußerem Schein, den sie wahrgenommen zu haben glaubte. Ich kam vor ein Militärgericht und es ging knallhart zur Sache. Alle Pfeile, die mich je getroffen hatten, sollten in einem Todesurteil durch Pfeilschüsse ihr Ziel erreichen.

Sie brachten mich vor die Stadt auf ein Feld voller knallgelber Rapsblüten. In dessen Mitte stand ein abgestorbener Baum. Daran fesselten sie mich viel zu fest, denn das Blut wich sofort aus Händen und Füßen. Dutzende von Pfeilen brachen in meinen zitternden Leib ein. Ich verlor jedes Bewusstsein und hätte nach Adam Riese mehr als einmal tot sein müssen. Doch ein kleiner Lebensfunke glimmte noch. Jemand fachte den Docht neu an, ließ das geknickte Rohr nicht zerbrechen und pflegte mich bis ich zu Kräften kam. Die ganze Welt hätten wir glücklich machen wollen. Der vierte Tag.

 

5

Gott sprach:
Das Wasser wimmle, ein Wimmeln lebenden Wesens,
und Vogelflug fliege über der Erde vorüber dem Antlitz des Himmelsgewölbs!
Gott schuf die großen Ungetüme und allen befittichten Vogel nach seiner Art.
Abend ward und Morgen ward: fünfter Tag.(14)

Brust

Ich war wieder bei Kräften und fühlte mich kämpferisch wie eine Amazone, die sich zwecks Waffentauglichkeit den rechten Busen herausgerissen hat. Den beknackten Militärs wollte ich nun deutlich die Meinung sagen: Denn sehet, von Anbeginn der Welt hat dieses Leben die betrogen, so darauf bauten, es hat genarrt, die es suchten, und hat zu Spott gemacht, die ihm vertrauten; und ist also wenig Sicherheit in ihm, daß man sprechen mag, es sei ganz und gar betrogen: es ermahnet den Dieb, daß er stehle, den Zornigen, daß er schlage, den Lügenhaften, daß er betrüge. Dies Leben gebietet Sünde, befielt Missetat und rät zum Unrecht. Die Verfolgung aber, die wir hie leiden, die glühet heute und ist morgen verraucht, sie ist heute hitzig und morgen kühl, in einer Stunde nimmt sie ein Ende. Wohl meint der Teufel, daß er uns hier möge überwinden; aber so er fangen will, ist er selbst gefangen; so er uns packt, ist er gebunden; da er siegen will, ist er überwunden; da er peinigt, wird er gequält; da er würget, ist er tot; da er höhnet, wird er zu Spott.(15)

Doch die Wachen scheuchten mich vor sich her dem Ausgang der Kaserne zu. Kurz davor war der Abort, mein letzter Arbeitsplatz als Soldatin. Da ich dringend pissen musste, ließen die Wachen mich allein und ich trat in den versifften Raum. Hier lauerte bereits Jemand und versüßte nun meinen letzten Arbeitstag. Ich wurde in eine Klozelle gezerrt und in die schlecht geputzte Schüssel gedrückt, bis ich keine Luft mehr bekam. Jemand packte mit beiden Händen die lustsuchenden Brüste, so dass sie weit hervorstanden. Ein Pfeil bohrte sich tief und quer in die weinrot gepresste Pracht. Hier stak schon mein spezielles Pfeilsortiment von Brustfrust, ein Rutenbündel sinnlicher Missverständnisse. Jedes Mal hatte ich heiß erhofft, ein passendes Objekt für anderer Leute Lüste zu werden. Doch es kam bloß zum Einbau des Tittenfummelns in die jeweilige Nummer, als Vorspiel oder Phantasiestütze eines vermeintlich eigentlichen "Danach". Wenn ich das spürte, war es immer schon zu spät. Der sexuelle Blick durchbohrte mein erwachtes Verlangen nach Brustlust und bog es zum Körperschema "Frau" zurecht. Mit sexhungrigem Pfeilhagel wurden mir "primäre" und "sekundäre" Eigenschaften ins Fleisch geschnitten, "oben" und "unten" wurden exakt festgeschossen. So starb meine Brusthoffnung mit jeder "Nummer" etwas mehr ab. Meine Freundin Agatha fühlte regelrecht, wie ihr bei diesen "Nummern" die Brüste abgezwickt wurden. Da ward Quintianus zornig und hieß ihr die Brüste peinigen und nach langer Pein abschneiden. (16) Dabei konnten sich meine Titten wirklich sehen lassen und wirkten ausgesprochen lebendig. Aber in ihren verborgenen Glücksbahnen war alles tot, knorpelig und igelstachlig. Manchmal meinte ich, den Modergestank von außen riechen zu können und mich ekelte vor mir selbst.

Doch mit Jemand zusammen in der Kloschüssel wachte mein ertötetes Fleisch wieder auf und entstieg dem modrigen Sexgrab. Sprach Sanct Agatha: Du greulicher, gottloser Wüterich, schämst du dich nicht, daß du an einem Weibe lässest abschneiden, was du selber an deiner Mutter gesogen hast? Aber wisse, daß ich noch ganze Brüste habe in meiner Seele, daraus ich alle meine Sinne speise. (17) Mir wurde die Insel Lemnos gezeigt, auf der ich zu Jemands Füßen inmitten der Klopfütze gestrandet war. Sie duftete wie ein Meer und bildete jauchzende Schaumkronen zeitloser Gezeiten. Wir waren in unsere Brüste hineingegangen, die in ihrer Vierzahl wie ein Universum von Gängen, Drüsen und farbenfrohen Pumpen wirkte. Zuerst war alles dunkel und nebelverschleiert. Doch durch das Scheuern meiner zahlreichen Außenstacheln an der Kabinenwand und dem Porzellan der Kloschüssel sprangen die Fenster der Sinne bald auf. Sogleich funkelten die Sterne mediterran über Lemnos und eine schmale Mondsichel spiegelte sich im Wellengekräusel. Ich dachte kurz: "das ist ja wie in 'Die Nebel von Avalon', wenn die Göttin den Schleier des Sees lüftet und alles Unsichtbare zum Vorschein kommt." Dann führte mich Jemand in eine Höhle im Uferfelsen und wir gingen immer tiefer hinab, entlang des unterirdischen Lethe, der auch 'Strom des Vergessens' genannt wird. Doch an diesem Gestade kehrte sich der Prozess des Vergessens in sein Gegenteil. Wir entdeckten unentwegt vergessene Sinnlichkeiten, die von den "Neins" der Welt und der Menschen pfeilwund vor sich hinbluteten. Bei vielen war das Blut schon schwarz geronnen und ihr Tod längst eingetreten: meine Brüste - ein Friedhof. Unterwegs durch unsre Bruststraßen zeigte mir Jemand, dass meine neuen kommunikativen Körperschächte und der Brustschacht durch den wir hinabschritten ein und dasselbe sind, was ich auf eine Weise "verstand", die sich jeder Erzählung entzieht. Dennoch will und muss ich es versuchen, denn wir können unmöglich schweigen über das, was wir gesehen und gehört haben. (18) Irgendwie war es wie die Trickfilme von Zwergenreisen durch die Galaxien menschlicher Innereien, die ich als junges Mädchen so gerne angeschaut hatte. Wieder wurde Inneres zur äußeren Landschaft. Innen und Außen stülpten erneut unablässig ineinander um, wie ein Existenzhandschuh, der permanent hin und hergewendet wird. Immer tiefer "verstand" ich dieses erotische Möbiusband, das zwar in unseren Personen Zweiseitigkeit vortäuscht, aber in Wahrheit nur einseitig ist. Jemands Liebespfeile schufen spiralig gedrehte Korrespondenzen innigster Einheit in der Zweiheit unsrer Leiber. "In der Intimität sind alle Menschen eins" (19) hörte ich eine fast donnernde Stimme verkünden. Ihr Echo kam von den Brustinnenwänden zurück, oder waren wir in der größten Kathedrale? Dann waren es gar nicht mehr unbedingt meine Brüste, sondern all mein verletztes Fleisch in Jemands Fleisch, durch das wir ineinander vordrangen. Über solchen Wegen kamen wir an die Mündung des Lethe in einen nachtblauen See, vor dessen Bläue sich jede "Blume der Romantik" zu verstecken hätte. Ich könnte nicht mit Bestimmtheit sagen, ob wir unter oder über dem Wasser waren und ob es sich um Blut, Milch oder andere Sekrete handelte. Ab und zu meinte ich, aufsteigende Luftblasen zu sehen und entlang meiner Haut zu spüren, manchmal wie gewöhnlich von unten nach oben, aber oft umgekehrt und meist unbestimmbar. Jemand machte mich mit dem Gott des Schlafes bekannt und stellte mir dessen Zwillingsbruder Thanatos vor, den Tod.

Jemand verließ mein Soldatinnenklo und die Türe klappte quietschend ins Schloss. Ich lag vor der Schüssel auf meinen blutig verschmierten Titten, aus deren linker die wundersame Doppelschraube ragte. Erst Stunden später stand ich auf. Um mich herum wurde in den anderen Kabinen unablässig gepisst und geschissen. Die Frauen beschwerten sich gackernd, wo denn die Kloschlampe abgeblieben sei, denn die Latrine sei heute ein richtiger Saustall. Wie recht sie hatten! Als man die Kirche weihete und Reliquien Sanct Sebastians und Sanct Agathen darein trug, da empfand das Volk, wie ihnen ein Schwein lief zwischen den Beinen hin und her, das lief zu der Tür der Kirchen aus, doch mochte es niemand sehen; davon wurde männiglich zur Verwunderung bewegt. (20) Da wusste ich, dass es kein Zurück geben konnte. Mein Stachelkörper war zum Lustleib auferweckt. Ein wandlungsfreudiges UnSchema von Organpositionen durchwucherte mich. Jede verletzte Wundzone war durch Jemand in lebendigster Entwicklung begriffen, das, was die Moralapostel "Sauerei" nennen. Wie ein kleines Mädchen sprang ich aus dem Abort. Zugleich fühlte ich mich weise wie ein Wald voll uralter Priesterinnen. Vor der Tür zerriss ich meine Uniform und hängte meine Brüste durch die Schlitze. Ich kehrte noch einmal zurück und beschmierte die Brusthöfe mit dem Inhalt jener wunderbaren Kloschüssel. Voller Glück torkelte ich ins Freie, ich tanzte und sprang. Als es dunkel wurde, kletterte ich mit Schwung auf das Latrinendach und verstreute im Kosmos mein universales Glück. In der Nacht darnach aber war auf den Dächern der Kirche ein Getümmel, als liefe jemand darauf her in großer Irrung. In der zweiten Nacht ward das Geräusch noch stärker; in der dritten Nacht aber erhallte der Lärm also gräulich, daß es schien als fiele die Kirche zusammen bis auf den Grund. (21) Doch ein diensthabender Offizier hatte mich beobachtet und erstattete eines Morgens Anzeige beim Militärgericht. Sie schlossen mich im Bunker ein, ein trostloser Ort ohne Tageslicht. Der fünfte Tag.

 

6

Gott machte das Wildlebende des Erdlands nach seiner Art
und das Herdentier nach seiner Art
und alles Gerege des Ackers nach seiner Art.
Machen wir den Menschen in unserem Bild nach unserem Gleichnis!
männlich, weiblich schuf er sie.
Abend ward und Morgen ward: der sechste Tag.(22)

Füße

In dieser dunklen schallisolierten Bunkerzelle saß außer mir noch Jemand, denn verschlossene Türen waren ja kein Problem. Ich roch sogleich die Harmonie mit meinem Zustand und wir tasteten im Dunkel aufeinander zu. Jemand durchbohrte meine Füße der Länge nach, leckte jeden Millimeter der Fußsohlen und zwischen den Zehen. Ich tat genauso und mich durchschauerten scharfe Düfte von brodelndem Raclette und Raubtierhaus. Zuvor kannte ich nur mein soldatisch trainiertes Frauenbein als Stimulans und Vorspiel in der gestaffelten Köperordnung der Sexualität. Dies Fußlecken in der Dunkelheit dagegen führte mir eine mehr als lebensgroße Doppel-Landkarte vor Augen. Der Wunsch sie zu deuten wurde unbändig. Blitze durchzuckten von den Fußsohlen her meinen Kopf. Auf der vorderen Landkarte erkannte ich meinen Körper, der aufrecht an der Mauer des Gesetzes festgenagelt war wie ein funktionaler Sexsack (23) von Beate Uhse. Dahinter hing eine zweite ganz bunte Karte voller wandlungsfähiger Örtlichkeiten aus Fleisch: ich als Leib. Durch Jemands Zunge an meinen Füßen und zwischen meinen Zehen wurden meine neugeschaffenen Lüste sichtbar. Das zweckdienliche und ordentliche Körperschema verflüssigte sich hier zur obsessiven Unordnung niemals fertig definierten Leibes. Ich wurde trunken von dieser Schau und Jemand grunzte erläuterndes Entzücken zwischen meine Deutungen. Wir vereinten Zwei bildeten ein Duett aus kristallener Poesie und melismatisch improvisierter Gregorianik. (24) Mein linkes Ohr, das durchbohrte Auge, die Achselhöhlen, Geschlecht, Brüste und Füße erschienen mir riesig, dann wieder winzig voller entzückender Wölbungen und Spalten. Ihr Farbenspiel changierte unablässig und ihre Düfte verzauberten mich verheißungsvoll. Nichts war hier körperschematisch angeordnet oder hatte Geschlechtseigenschaften. Meine neugeschaffene Topographie kannte weder Oben noch Unten, sondern die Lustwunden waren immer unterwegs und nässten auf ihren Wegen verlockend vor sich hin. Diese Schau war wie die Epiphanie einer Gottheit: Jemand erweckte mich Tote Stück für Stück zum Lustleib. Vom vorderen Zweckkörper her klang noch das traurige Sklavenlied mit seinem öden Wiederholungszwang: "Ordnung muss sein! Ohne Fleiß kein Preis! Auf jedes Töpfchen ein Deckelchen!" Dabei blitzten an einigen Stellen aus dem noch nicht auferweckten Rest meines Fleisches Augen auf, wenn die zweite Karte dahinter hinwegglitt. Sie sehnten sich voller Tränen nach erlösenden Verwundungen. Jemand sang leise vor sich hin: "O glaube, mein Herz, o glaube, es geht dir nichts verloren. Dein ist, was du gesehnt, was du gestritten, dein, was du geliebt, was du gelitten." (25)

Ich brauchte mich für die Gerichtsverhandlung nicht zu waschen, wie ich erst befürchtet hatte. Mein Zustand diente der Anklage nämlich als Beweismittel. Der Kaiser staunte: Ist das nicht Sebastianus, den wir unlängst mit Pfeilen hießen töten? (26) Als die hochgerüsteten Vorgesetzten noch einmal ihre Ordnungspfeile abschossen, glänzte das neugeschaffene Glück aus meinen Augen, was sie zur Weißglut brachte. Ich sah ihre armselige Wut, die immer neu zum Pfeilschuss gespannten Moralbögen und die lächerlichen Köcher mit ihrem unersättlichen Vorrat. Dann machten sie kurzen Prozess. Da ließ der Kaiser ihn so lange mit Stecken schlagen, bis er seinen Geist aufgab. Und ließ seinen Leichnam in eine Kloake werfen, daß ihn die Christen nicht als einen Märtyrer ehren möchten. (27) Sanct Sebastianus aber ward gemartert unter den Kaisern Diocletianus und Maximianus, die im Jahre 287 zur Herrschaft kamen. (28) Der sechste Tag.

 

7

Vollendet waren der Himmel und die Erde, und all ihre Schar.
Vollendet hatte Gott am siebenten Tag seine Arbeit, die er machte,
und feierte am siebenten Tag von all seiner Arbeit, die er machte.
Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn,
denn an ihm feierte er.
Das sind die Zeugungen
des Himmels und der Erde: ihr Erschaffensein.(29)

Auferweckung

Hienach in der ersten Nacht erschien Sanct Sebastian der heiligen Lucina und tat ihr kund, wo sein Leichnam läge. (30) Jemand fand mich im Strudel der Abwässer, schuf neu, was gestorben war und ließ mich alleine ausschlafen. Dann ging ich einen Sabbatweg weit jenseits irdischer Zweiteilungen zu Jemand ohne Form und Modus. Strahlend vor Glück tanzte ich die römische Via Appia entlang bis ich in die Kirche San Sebastiana eintrat (31). Hier wartete Jemand auf mich und wir schleckten und küssten uns durch die Schraubwunden ineinander. Nichts ist fleischiger als dieses Glück nach dem Tod. Wir drangen zum Tiefsten vor, zum Glück des tödlichen Verfalls, wo das neue Leben beginnt. Keine meiner Lebenswunden verschwand bei diesem Opfer der Hingabe aneinander. Aber jede wurde zur Entäußerungspforte, einander im erlösten Fleisch zu beglücken. Als Jemand ging, blieb ich auf einem kleinen Opferaltar mit Ablaufrinnen für das Schlachtblut an jeder Ecke. Die Vorderfront zierte ein Mosaik, das mich auf jenem Rappsfeld zeigte, wo mich die Gesetzeshüter einst mit ihren Pfeilwolken zu Tode bringen wollten (32). Längst war mein Fleisch von den Knochen herunter gefault und die Maden hatten sich neue Opfer gesucht. Einzig meine trockenen Gebeine lagen unter der Altarplatte. Manchmal kam eine alte Nonne und entzündete davor Kerzen, doch heute waren alle heruntergebrannt. Da ging die schwere Tür dieses Wallfahrtsortes quietschend auf. Es war eine Frau im Lande Tuscien, die ward geladen zur Kirchweih von Sanct Sebastianus Kirchen. Des Nachts zuvor aber, da sie gehen sollte, mochte sie ihrer Lust nicht widerstehen und schlief bei ihrem Manne. Als es Morgen ward, zog sie dennoch dahin, denn sie schämte sich mehr vor den Menschen, als vor Gott; aber alsbald sie in die Kirche trat, darin Sanct Sebastians Gebein war, da ward sie besessen von dem bösen Geist, der quälte sie sehr vor allem Volk. Der Priester nahm das Altartuch und deckte sie damit; da fuhr der Teufel auch in den Priester. Nun ward die Frau von ihren Freunden zu Teufelsbannern geführt, daß sie den Teufel aus ihr trieben; aber da sie ihre Beschwörung anhuben, da fuhren von Gottes Verhängnis 6666 Teufel in sie und peinigten sie noch härter. (33) Ich sah sofort: das war eine wie ich, als ich noch in dieser Welt lebte. Jeder Quadratmillimeter ihres Fleisches war jenseits des Zweigeschlechts entäußerungsfähig. Jemand musste sie berührt haben und ich freute mich lüstern. Da hörte ich auf einmal ein Geräusch: Meine Gebeine rückten zusammen, Bein an Bein. Plötzlich waren Sehnen auf ihnen, und Fleisch umgab sie, und Haut überzog sie (34), denn mich verlangte unbändig nach ihr. Doch als man sie über mich auf den Altar schmiss und festband, tat sie mir auch leid, wie sie so verführerisch dalag in ihrem aussichtslosen Schmerz und den Henkern ausgeliefert. Mit diesem Opfer sollte nun endlich Schluss sein. Ich fuhr mit Jemands Kraft durch ihre Verletzungen in ihr Fleisch und zusammen waren wir unschlagbar. Wir durchstießen zusammen das Tempeldach und leuchteten mal wie tanzende Sonnen, dann wieder als dunkle Glut unter dem Kirchenboden, der den Exorzisten nun nicht mehr geheuer war. Sie glaubten, eine Teufelin hätte sich gegen sie erhoben und nahmen schreiend Reißaus. Wir beide aber traten zu Jemand und in dreifachem Taumel vereinigten wir unsere Wunden zum kosmischen Glück. Da ertönte ein sonore Stimme in allen Klangfarben des Universums: "Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau, sondern ihr alle seid eins." (35) Das war der siebte Tag der neuen Schöpfung, an dem das grenzenlose Fleischesfest begann. Sebastiana ruhte von ihren Wandlungen aus. Sie sah alles, was neu geschaffen war und siehe: es tat unbeschreiblich gut.

Fußnoten:
(1) Alle Zitate der Genesis nach der Bibelübersetzung von Martin Buber/ Franz Rosenzweig, I Die fünf Bücher der Weisung; hier: Gen 1,1-2
(2) Die größte Kultkarriere machte Sebastian zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert, als der "Schwarze Tod" wütete, wohl aufgrund seiner pestbeulenartig über den ganzen Körper verteilten Pfeilverletzungen.
(3) Jacopus de Voragine: Legenda Aurea; umfangreichste Legendensammlung des 1. christlichen Jahrtausends (zwischen 1263 und 1273 entstanden); Gerlingen 1997: Von Sanct Sebastianus, S. 127-132, hier 127
(4) Legenda Aurea S. 127
(5) Gen 1, 3-5
(6) Nach dem Arabischen Kindheitsevangelium ruhte Maria bei der Flucht nach Ägypten unter einer Sykomore aus, ein verbreiteter Baum im Mittelmeerraum, der eine spezielle Art von Maulbeerfeigen trägt. Nach dem gnostischen/apokryphen Arabischen Kindheitsevangelium habe Jesus zu Füßen der Sykomore eine Quelle sprudeln lassen, in der Maria sein Hemd wusch. Vgl. Wilhelm Schneemelcher: Neutestamentliche Apokryphen I S. 366
(7) Nach einer mit der vorangehenden verwandten gnostischen Legende ("Pseudo-Matthäusevangelium") neigte sich bei der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten ein Frucht tragender Palmbaum auf den gleichlautenden Satz des Jesuskindes herab, damit Maria leichter an die Früchte heranreichen sollte. vgl. ebenda S. 368
(8) Gen 1,6-8
(9) Persephone hätte nichts essen dürfen, nachdem sie von Hades in die Totenwelt unter dem Ätna entführt worden war; aber in ihrem Schmerz nahm sie einen Granatapfel zu sich und war dadurch an den Totengott gebunden. In der christlichen Ikonographie gemahnen die beiden violetten Früchte an die Unausweichlichkeit der Passion.
(10) Gen 1,9-13
(11) Georges Bataille: Die Erotik
(12) Gen 1,16-19
(13) Georges Bataille: Die Innere Erfahrung
(14) Gen 1,20-23
(15) Legenda Aurea S. 130-131
(16) Legenda Aurea: Von Sanct Agatha S. 200
(17) ebenda S. 201
(18) Apg 4,20; alle Bibelzitate außer Genesis aus der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift der evangelischen und katholischen Bibelanstalten.
(19) Georges Bataille: Die Erotik
(20) Legenda Aurea, Von der Kirchweih; S. 987
(21) ebenda
(22) Gen 1,20-31
(23) Vielleicht lebt im Sebastianskult auch der mythische König Phrygiens namens Marsyas, der von Apollo an einer Fichte aufgehängt und gehäutet wurde, auch wenn Sebastians Haut dran bleibt. Vgl. Didier Anzieu: Das Haut-Ich, Frankfurt/Main 1992; besonders S. 67-79
(24) Melismatischer Gesang improvisiert Unsagbares über einzelnen Textsilben.
(25) Gustav Mahler verdichtete dieses Poem von Kloppstock in seiner Auferstehungssymphonie.
(26) Legenda Aurea S. 131
(27) ebenda
(28) Legenda Aurea S. 127
(29) Gen 2,1-4
(30) ebenda
(31) 354 wird zum ersten Mal die Kirche "San Sebastiano ad Catacumbas" an der römischen Via Appia erwähnt. Papst Sixtus III. (432-440) gründete hier ein Kloster mit Pilgerbetreuung, das noch heute besteht und seit der Antike zu den 7 Pilgerkirchen Roms gehört. So wurde die Sebastianslegende eine der bekanntesten Märtyrergeschichten.
(32) Älteste bekannte Darstellung des Pfeilhagels ist ein Mosaik von 680 in der römischen Kirche "San Pietro in Vincoli" ("St. Petrus in Ketten" nach Apg 12,1-19".
(33) Legenda Aurea S. 131-132
(34) Ez 37,7-8
(35) Gal 3,28