Mielchen/Stehling (Hg.): Schwule Spiritualität und Sinnlichkeit; Hamburg 2001

 

Sexuelle Überschreitung als spritueller Weg

Die Überschreitungen der Liebe und des Sexuellen sind zwei verschiedene Dinge. Sexuelle Überschreitung kann zwar unter den Bedingungen der Liebe stattfinden, muß es aber nicht und gründet auch nicht in ihr. Eher schon umgekehrt: aus dem sexuellen Glück kann manchmal Liebe werden. Doch davon handelt dieser Vortrag nur am Rande. Ohne das Sexuelle und die Liebe gegeneinander ausspielen zu wollen, sind die folgenden Überlegungen der sexuellen Überschreitung als "spirituellem" Weg gewidmet.

Heute ist der ruhigste Tag des Kirchenjahres. Selbst bei uns eifrigen Katholiken fällt Karsamstags die Messe aus. Vielleicht ist dieser Tag der Grabesruhe besonders günstig, Fragen nach "Überschreitung" zu stellen. Denn zwischen Karfreitag und Ostersonntag fragt der Karsamstag nach Überschreitung des Scheiterns. Könnte nach unserer Kreuzigung durch die Verhältnisse und den Tod nicht doch Ostern kommen?

Überschreitung braucht Grenzen, diesseits und jenseits, davor und dahinter, drinnen und draußen, sonst ist sie weder möglich noch überhaupt denkbar. Gibt es heute "noch" Überschreitung des status quo, d.h. dessen, was leider nur geworden ist? Gab es so etwas jemals oder handelte es sich immer schon um Illusionen, vielleicht im Sexuellen sogar ganz besonders? Ist die utopische Spannung, das Schon-und-noch-nicht, eine gefährliche Vertröstung, statt jetzt zu leben, das Leben auf den St. Nimmerleinstag zu verschieben? "Macht uns nicht besoffen mit all eurem Hoffen?"

Zumindest war die Vorstellung der Möglichkeit von Überschreitung früheren Kulturen so wichtig, daß sie mehrere "große", "geschichtsträchtige" und mächtige Worte benutzten, die das Überschreiten vielfältig charakterisieren. Jeder Überschreitungsausdruck repräsentiert dabei einen Aspekt dieser Vorstellung. Transzendenz bedeutet religiös das Hinübergehen vom Diesseits ins Jenseits als Kult oder existenzielle Erlösung; die idealistische Philosophie dachte Transzendenz als Größe des Subjektes, wenn es sich die Welt außerhalb seiner selbst durch Erkenntnis aneignet. Exzess bezeichnet den kollektiven Weg aus der alltäglichen Normalität in die Ekstase, den rausch- und wahnhaften Blick auf die Welt jenseits der Begriffe und definierten Identitäten. Exodus ist wie Exzess der Weg heraus, aber religiös-politisch gedacht als Auszug Israels aus dem ägyptischen Sklavenhaus. Diese Politisierung religiöser Hoffnungen bzw. umgekehrt die politisch-gesellschaftliche Befreiung als Gotteserfahrung wurde zum Inbegriff der Emanzipation. Auch die bürgerlichen Emanzipationen inclusive der Schwulenbewegung sind vom Exodus geprägt: aus Ungerechtigkeit und Unterdrückung ins Reich der Freiheit. Säkulares und religiöses Transzendieren bilden eine unauflösliche Einheit.

Bezüglich sexueller Überschreitung hat die Menschheit v.a. zwei religiöse Auffassungen hervorgebracht, die zunächst gegensätzlich klingen, aber in der Praxis der jeweils staatstragenden NormalbürgerInnen auf dasselbe hinauslaufen: 1. Der Körper als Gefängnis der Seele: sexuelle Überschreitung zielt auf das "spirituelle" Verlassen des Leibes und seiner Begierden zur seelischen ‘apatheia’, der ewigen Bedürfnislosigkeit. 2. Die Seele als Gefängnis des Körpers: sexuelle Überschreitung ist seelischer Mißbrauch des Körpers, Götzendienst und Ausdruck der Sünde; Gott gab das Gesetz und der ‘logos’ wurde Fleisch, um per Gehorsam und Passion den Weg in diese ‘materia proportionata’ (Thomas von Aquin) zu bahnen, die Sex und Gender zur Deckung bringt, immerhin mit dem Ziel der Auferstehung des Fleisches. In beiden Vorstellungen kommen die Lüste nicht gut weg und sollen "eigentlich" verschwinden, entweder durch Aus-Leben (im Wortsinne) oder durch Austreiben, Kasteiung und Terror. Das lebenspraktische Ergebnis erweist jede Großreligion als zutiefst lustfeindlich, so daß es "fast egal" erscheint, welcher der beiden Richtungen Glaubende folgen. Allerdings nur "fast"; nimmt man nämlich das Gerippe der beiden gegensätzlichen religiösen Lehrgebäude heutiger Sexualität, erschiene die jüdisch-christliche Richtung der "Einfleischung" eigentlich vielversprechender als die platonische "Ausfleischung" zur ‘apatheia’.
In beiden Vorstellungswelten gab und gibt es jedoch auch Mystik, die ungehorsam auf ihren abweichenden Erfahrungen beharrt, ärgerlich für religiöse und gesellschaftliche Autoritäten: "Hier stehe ich und kann nicht anders. Gott helfe mir", sagte der Mystiker Martin Luther vor dem katholischen Gericht. Durch die prinzipielle Möglichkeit im Weltbild "normaler" Gläubiger, daß Mystiker recht haben könnten, daß sie -im Gegensatz zu einem selbst- "wirklich" etwas übernatürliches geschaut oder gespürt haben könnten, ist ihre Abweichung von der Norm für normale Gläubige und staatstragende Glaubenssysteme so gefährlich. Wer nichts oder wenig Religiöses glaubt bzw. für möglich hält, den stört vergleichsweise wenig, wenn davon gesprochen wird. Zur Entschärfung wird Mystik in die kanonischen Texte der Religionen zwar aufgesogen, aber durch Interpretation dieser lebendigen Erfahrung zur harmlosen Metapher verstümmelt. Aus dem prallen Leben wird ein "Als ob". Wenn Gott z.B. als mystischer Bräutigam der gesamten Menschheit mit ihren vielen Milliarden Individuen gesehen wird, hat dies neben politischen Provokationen für den status quo (Ethnien, Besitzverhältnisse, Privilegien) auch sexuelle: Frauen wie Männer als Gottesbräute, deren Ewigkeit mit Gott und untereinander eine nicht endende Hochzeitsnacht werden soll. Als Metapher ist dieses Bild harmlos bzw. langweilig wie unsere Hochzeitsnächte. Als fleischliche Mystik aber stellt es überschreitende Behauptungen auf, z.B. im Blick auf die schwule Subkultur. Warum sollten ihm nicht sexuell-überschreitende Erfahrungen als mystische Schau zugrunde liegen, und zwar sehr vieler Epochen und unzähliger Einzelner, da das mystische Bild von Bräutigam und Braut doch in allen bekannten Religionen vorkommt? Promiskuität würde in dieser Mystik zur Einübung erlöster Verkehrsformen und Jesus empfand vielleicht auch deswegen die Huren und Sünder näher am Reich Gottes als die Gesetzestreuen. Michel Foucault schrieb über die Lustkultur im christlichen Mittelalter Europas:

"Niemals hatte die Sexualität eine unmittelbarere und natürlichere Bedeutung und ein größeres ‘Glück des Ausdrucks’ als in der christlichen Welt der gefallenen Körper und der Sünde. Beweis dafür ist eine Mystik, eine Spiritualität, in der das Begehren, der Rausch, das Eindringen, die Ekstase und das ohnmächtige Verströmen bruchlos ineinander übergingen; all diese Bewegungen setzten sich für sie ohne Unterbrechung und ohne Schranke bis ins Herz der göttlichen Liebe fort, deren letzte Ausweitung und wiederkehrende Quelle sie waren."(1)

Sinnliche Erfahrung von Leid und Lust waren im Hochmittelalter also untrennbar von Glaubensvorstellungen und Hoffnungsmotiven. Was wir Heutigen "Spiritualität" nennen, hatte im angeblich so sinnenfeindlichen Mittelalter daher eher "materielle" Qualitäten. So berichtet eine niederländische Begine namens Hadewijch aus der ersten Hälfte des 13.Jh. von den unmittelbar körperlich erfahrenen geistlichen Lüsten wie von einem Orgasmus:

"Er gab sich mir in der Gestalt des Sakramentes... Dann aber kam er selbst zu mir, nahm mich ganz in seine Arme, drückte mich an sich; und alle meine Glieder fühlten die seinen voller Glückseligkeit, in Übereinstimmung mit dem Verlangen meines Herzens und meiner menschlichen Natur. So war ich äußerlich gesättigt mit voller Befriedigung. Eine kurze Weile hatte ich die Kraft, das zu ertragen; bald aber, nach ganz kurzer Zeit, verlor ich den schönen Mann in seinen äußeren Formen. Ich sah ihn ganz zunichte werden und so zerfließen und ganz in eins verschmelzen, daß ich ihn außerhalb meiner nicht mehr erkennen und vernehmen und in mir nicht mehr vorstellen konnte. Da war es mir, als ob wir ohne Unterschied eins wären."(2)

Derartige Erfahrungen konnten auch auf Obsessionen einzelner Körperteile gerichtet sein, wie die österreichische Nonne Agnes Blannbekin aus derselben Epoche berichtet:

"Von Jugend auf war ich gewöhnt, am Tag der Beschneidung in heftiges Weinen auszubrechen aus Mitleid über den Verlust des Blutes Jesu Christi (...) So in Weinen und Mitleid versunken fing ich an zu überlegen, wo die Vorhaut des Herrn hingekommen sein möge. Und siehe, bald fühlte ich auf der Zunge ein kleines Häutchen, nach Art des Häutchens eines Eies, von äußerster Süßigkeit und ich schlukte es hinunter. Kaum hatte ich es geschlukt, fühlte ich aufs Neue ein solches Häutchen mit süßem Geschmak, und ich schlukte es wiederum. Und nachdem sich das so oft wiederholt hatte, war ich versucht, es mit dem Finger zu berühren. (...) So groß aber war die Süßigkeit beim Genießen des Häutchens, daß ich eine süße Umwandlung in allen Gliedern und Gelenken verspürte."(3)

Wir Postmodernen haben 250 Jahre Skepsis gegen "das Andere" in jeder Gestalt hinter uns. Alles ist nun immanent und Transzendenz gibt es nicht, so daß Überschreitung mangels Grenze eigentlich unmöglich wurde. Mit dem Tod Gottes entstand auch die moderne Sexualität, d.h. keine Pflicht zur Generationenfolge mehr, sondern freiwillige Begegnung zweier Individuen. Für de Sade und Nietzsche fiel der Tod Gottes mit der sexuellen Souveränität der einzelnen zusammen. Das eine hängt untrennbar am anderen, erst gemeinsam bilden sie die moderne säkulare Struktur. Dabei weicht die Disziplinarmacht des ‘logos’ immer weiter zurück, zugunsten ihres scheinbaren Gegenteils, des Lust-Gebots: alles ist erlaubt, außer Nicht-Genießen. So erscheint Überschreitung mangels Grenze als historisch überholte Vorstellung und für immer verloren. Doch wir sind in der modernen Selbstermächtigung des Menschen selbst zur Grenze geworden, wie Foucault sagt:

"Wir haben die Sexualität nicht befreit, wir haben sie an die Grenze getrieben: Grenze unseres Bewußtseins, da sie die ihm einzig mögliche Lektüre des Unbewußten diktiert; Grenze des Gesetzes, da sie als der einzige absolut universelle Inhalt des Gesetzes erscheint; Grenze unserer Sprache, denn die Sexualität bezeichnet die Schaumlinie dessen, was die Sprache auf dem Sand des Schweigens gerade noch erreichen kann. Anstatt uns mit der geordneten und glücklich profanen Welt der Tiere zu verbinden, ist die Sexualität Spaltung: sie zieht nicht um uns herum eine Linie, um uns abzuheben, sondern sie zieht in uns die Grenze, um uns selbst als Grenze zu bezeichnen."(4)

Für die sexuelle Überschreitung als mystischer Weg ist unser modernes "die-Grenze-sein" nach dem Tod Gottes aber eine gute Ausgangsposition, denn der platonische Gott des Wahren, Guten und Schönen ist zwar gottlob tot und mit ihm die Moral des Buckelns, nicht aber die Frage nach göttlicher Überschreitung, Gott ohne "Form und Modus", vom Humanum mit seinen Zwecken und Nützlichkeiten aus betrachtet ein "Nichts":

"Was die Mystik nicht sagen konnte (ohne in sich zusammenzufallen), die Erotik sagt es: Gott ist nichts, wenn er nicht die Überschreitung Gottes auf jede nur mögliche Weise ist, auch im Sinne des Greuels und der Unzucht; und schließlich im Sinne von nichts..." (Georges Bataille)

Der klassische Einstieg zur sexuellen Überschreitung war die Verbotsübertretung, der Knoten von Gesetz und Begehren und steht im Römerbrief des heiligen Paulus:

"Ich hätte ja von der Begierde nichts gewußt, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: du sollst nicht begehren. Die Sünde erhielt durch das Gebot den Anstoß und bewirkte in mir alle Begierde, denn ohne das Gesetz war die Sünde tot." (5) 7,7-8

Noch für den spätmodernen Bataille, der 1965 starb, eröffnete die Verbotsübertretung den sakralen Raum, in dem das Unmögliche der Überschreitung möglich werden konnte. Die Disziplinarmacht "Gesetz" war also nötig um per Exzess zur Ekstase zu gelangen, bei Paulus als Sünde, bei Bataille als Souveränität. Für beide entsteht das Begehren erst aus dem Verbot und beide lehnten darum radikal die Abschaffung des Gebotes ab, Paulus wegen der Sünde, Bataille wegen der Profanierung der Lüste. Trotzdem hätten sie vermutlich heftig miteinander gestritten, weil für Bataille die wesentliche Sünde des Christentums die Heiligsprechung des Wahren-Guten-Schönen war, unter Ausschluß der ‘Dunklen Glut’ (Johannes vom Kreuz) in ihrer mystischen und ekstatischen Wahrheit physischer Lüste und Leiden.

Indem das Gesetz der Moderne in umgekehrter, entfesselnder Richtung zugreift, wurde machbares "Glück" als happyness zur modernen Gestalt der Macht. Die Fessel besteht im Genußgebot um jeden Preis. Wer dieses moderne Gesetz überschreiten wollte, müßte zölibatär leben oder asozial begehren als Inzest, Vergewaltigung oder Kindesmißbrauch, denn die Mystiken der Lust von den Schamanen über Aphrodite und Dionysos zum mittelalterlichen Christentum sind nicht unsere Realität. Im Gegenteil: Rudimente der Disziplinarmacht aus dem "finstren Mittelalter" täuschen wie eine Negativfolie als kirchliche, schulische oder familiäre Schreckbilder uns Modernen vor, "in der besten aller möglichen Welten" (Leibniz) zu leben, repressionsfrei, alternativlos und ohne Utopie. Im Zuge dieser unfreien Freiheit, die Foucault als Sexualitätsdispositiv beschrieb und Marcuse als repressive Entsublimierung, regt sich jedoch eine verbreitete Unzufriedenheit mit der Banalität von Sexualität. Schwule Männer als Modellcharaktere dieser Machbarkeit (strukturelle Homosexualität) drücken ihre Enttäuschungen über das "leere Sexversprechen" bereits seit Jahrzehnten aus. Hinter immer neuen Praktiken wartet doch nur die unbefriedigende nächste. So erscheint vielen Zeitgenossen mitten in der Postromantik ein aufgewärmtes romantisches Paar die einzige Überschreitungsalternative zum schlechten status quo des Sexuellen.

Warum ist das Sexversprechen so leer? Falls im Zeitgeist auch wahre Anteile stecken sollten, könnte es den enttäuschten Menschen um die Frage nach Überschreitung ihrer egozentrisch-monadenartigen Zwischenleiblichkeiten zu tun sein. Sie stellen die Frage nach "Intimität", weil sie sich auch im größten Exzess einsam fühlen. Der andere rückt in unerreichbare Fernen, selbst und gerade dann, wenn wir physisch ganz dicht beieinander und ineinander stecken. Es gibt nichts anderes mehr, nur mich selbst. Was ich zu sehen und zu fühlen meine, bin immer nur ich als Spiegelkabinett meiner emotionalen Identität. Vor der in nuce "spirituellen" Frage an die Sexualität stellt sich darum die "soziale Frage" nach dem Vorhandensein und der Erreichbarkeit von anderen und anderem als mir selbst. Es handelt sich dabei durchaus um eine Neuauflage der "sozialen Frage" des 19.Jh., weil es auch hier um die Unmöglichkeit der Befriedigung geht, damals von Bedürfnissen, heute von Begehren. Beide Unmöglichkeiten sind sozioökonomisch konstruiert und "alles" scheint von der Möglichkeit der Veränderung, d.h. von der Revolution bzw. Überschreitung abzuhängen. Doch wir leben in keiner revolutionären Situation, zumal jede soziale Bewegung auf dem Feld der Lüste schnell das Geschäft der Macht bedient, selbst und gerade dann, wenn sie das überhaupt nicht will, weil dann noch ihr guter Vorsatz Teil der "Machtübernahme" zu werden sich anschickt. Doch wenn an der These von der "strukturellen Homosexualität" des globalisierenden "Fortschritts" etwas dran sein sollte, bleibt es vielleicht auch nicht ohne Auswirkungen, wenn Schwule die Waren-Sexualität zu überschreiten begännen?!

"In der Intimität sind alle Menschen eins." (Georges Bataille)
Um "sexuelle Überschreitung" zu skizzieren, ausgehend von der Grenze, die das moderne gottlose Menschsein selbst hatte werden wollen, lohnt es, sich einige Gedanken zur Entstehung des Begehrens (desir) und der Genußfähigkeit (jouissance) nach Lacan anzueignen, selbstverständlich nicht als Dogma, sondern als Gedankenexperiment dieses Vortrages. Auch hier finden wir den Knoten von Gesetz und Begehren: Trieb bzw. Verlangen entstehen im Kind aus dem Gesetz (wie bei Paulus), und zwar als Verarbeitung der Versagung durch die primäre Bezugsperson. Dieses "Nein" der Erwachsenen bezüglich stillen, Wärme oder welchen Wunsch auch immer gipfelt in der Einsicht des Kindes, von der primären Bezugsperson existenziell getrennt und ein eigenständiges Wesen ihr gegenüber zu sein. Der Verlust dieses "paradiesischen" Primärobjektes ist ebenso unfreiwillig und total, wie die Erinnerung an diese verlorene Einheit süß ist. So entsteht das unerfüllbare Begehren, dem keines der späteren Objekte je ganz genügen kann, mit tendenziell hysterischen Zügen. Die Frage des Triebes "wer bin ich für begehrende Andere?" bleibt daher lebenslang unscharf, weswegen auf dem Weg des Begehrens so wenig Intimität möglich zu sein scheint: kein Angebot paßt zur Nachfrage vice versa, wie im Kapitalismus. Das System wird immer gieriger und der versagte Wunsch wird zum Wunsch nach Versagen. Gleichzeitig gab es für das Kind aber auch die Befriedigungen seiner Wünsche und zwar genau an den Schmerzpunkten, die das erwachsene "Nein" geschlagen hatte. Im Unterschied zum Begehren macht sich diese jouissance jedoch nicht an der Ganzheit einer Person fest, sondern ist ein Duft, eine Temperatur, eine Hautpartie, eine Stimmung, Ausscheidungen und mit all dem verbundene "sexuelle" Praktiken. Das begehrt/begehrende Körperschema löst sich in der Perversion genießend auf. Im Unterschied zum herkömmlichen Sprachgebrauch ist die Perversion der jouissance also weder ein plombenartiger Glücksersatz (Morgenthaler/Stoller), noch eine Monstrosität wie das Ficken im Inneren frischgeschlachteter Kühe (obwohl auch dagegen vermutlich nur die BSE-Gefahr einzuwenden wäre). Die jouissance klebt an zahllosen Punkten unserer Existenz. Wie im Märchen von Hase und Igel hören wir ihr "ick bin allhier", längst bevor wir bei uns selbst sind, im Unterschied zum Begehren und seinen ach so fernen, unerreichbaren Objekten.

Die Schmerzpunkte mit ihren perversen Chancen bilden somit einen zweiten Leib inmitten und alternativ zum Körperschema. Dieser kritische Wund-Leib "begehrt" die Überschreitung nicht nur, sondern "ist" sie in(mitten der) persona. Wir sind diese Wunden, denen im Unterschied zum Ganzkörper die abgrenzende Haut fehlt. In diesem Sinne droht den Jouissance-Fähigen die "Ichschwäche" des Borderline. Aber sie sind auf den "Wegen" ihrer perversen Wunden zum Exodus aus sich heraus in der Lage. Die therapeutische Warnung vor "Borderline" als psychische Krankheit unserer Zeit erscheint mir darum im Blick auf den überschreitungsarmen Zustand des Sexuellen ausgesprochen fragwürdig, fast spiegelverkehrt. Es ist, wie bei der Haut des Märtyrers Sebastian. Sein Markenzeichen sind die vielen Pfeile, mit denen er von den heidnischen Soldaten seines Glaubens wegen durchbohrt wird. Als leidvolle Wege führen die Wunden per Obsession aus sich heraus und stellen die obsessive Frage nach Intimität. Dabei sind die Marterpfeile als zweiseitige Kommunikationsbrücken vorzustellen, deren schmerzhafte Spitze einerseits nach innen ins Individuum reicht, andererseits in die (hoffentlich) genießenden Anderen, sofern sich Möglichkeiten dazu bieten. In dieser Logik bedürfen wir zwar zunächst des ebenso "schönen" wie unerreichbaren Begehrens, finden jedoch aus seiner frustrierenden Unerreichbarkeit durch ihre und unsere Schmerzgeschichte zur perversen Glücksmöglichkeit der begehrten jeweils Anderen.

Die so charakterisierte sexuelle Überschreitung bildet Wege durch die Sexualität zum Sexuellen (Sigusch), durch das Definierte zum Undefinierbaren weil tatsächlich und radikal Anderen. Darum geht es immer ein wenig an der "Sache" vorbei, wenn dieses Un/Mögliche in Worte gefaßt wird. Poesie und Musik können sich ein wenig nähern, aber "die jouissance genießt, weil und indem sie nichts von sich weiß" (Kamper). Es ist aber von ihr zu sprechen, weil sie nahezu nie in Reinkultur vorkommt, dennoch überall klebt und selbst in den allerneurotischsten Verbiegungen noch lüstern hervorlugt. Sie ist das Andere der jeweils anderen und darum für die Suche nach Intimität außerhalb meiner selbst geeignet. Nicht technisch, aber vielleicht doch ein wenig "methodisch" sollen einige Winke in überschreitender Richtung gegeben werden.

Woher kann ich wissen, daß es tatsächlich Kommunikation und Intimität sind, die auf perversen Wegen stattfinden? Es könnte ja auch eine besonders perfide Täuschung sein, kaschiert von der egozentrischen "Harmonie" der letztlich eben doch nur technischen Entsprechung sexueller Verrichtungen. Jeder Subkulturbesuch birgt die schmerzhafte Möglichkeit, nach kurzer Anmache von anderen stehengelassen zu werden oder sich selbst nach einem vergeblichen Versuch abzuwenden, was der andere manchmal gar nicht versteht, weil es ihm gut gefallen hat. Weil diese "Abschiede" voneinander oftmals unnötig ruppig ausfallen, ist auch die "echte" sexuelle Begeisterung verdächtig, bei sich selbst bleibende Geilheit zu sein, ohne tatsächlichen Kontakt zum Sexpartner, eingeschlossen in die eigene Wahrnehmung wie in ein Spiegelhaus, da man immer nur sich selber sieht und den anderen mit sich permanent verwechselt, statt mit ihm Eins zu werden, zumindest tendenziell. Diese moralische Skepsis ist als Subkulturpessimismus weit verbreitet, trifft aber die perversen Möglichkeiten allenfalls äußerlich. Denn bereits die egozentrische Lust ist gegenüber dem ebenso möglichen Leid und der noch häufigeren Grauheit der Langeweile ein überschreitender Schritt, wenn auch auf sich selbst beschränkt. Erst durch ein Kennen der eigenen Angebotspalette an "Sebastiansöffnungen" kann die Ambivalenz im Bezug auf Zwischenleiblichkeiten so weit reduziert werden, daß meine Angebote ernstlich interessant sein könnten. Dieses ernstliche Interesse gilt der Fähigkeit, ein geeignetes Objekt des Begehrens für andere sein zu können und bewirkt ein Ende der hysterischen Frage, was das sei. Die moralische Frage nach dem Glück der Partner löst sich in dem Maße auf, wie die handelnden Subjekte sich zum Gegenstand füreinander entäußern, wo sie "ein Fleisch" werden ohne Worte, jedenfalls für den üblichen Sprachgebrauch...

a) Überschreitung des Laufstegs (nicht oben auf, sondern darüber hinweg!)
Während das hysterische Begehren die unablässige Laufstegsituation sucht und braucht, beginnt sich die soziale Rangfolge in der perversen Hingabe aufzulösen. Es ist nicht mehr so wichtig, die angesagten Kleidungsstücke zu tragen, sondern allenfalls der Zusammenhang zwischen einem z.B. verschwitzten Kleidungsstück mit der Obsession. Dasselbe gilt für bevorzugte Körperformen, Lebensalter und Beuteraster, deren Palette sich extrem verbreitern kann. Eine Überprüfung der subkulturellen Orte und Verhaltensstile könnte vielleicht hilfreich sein. Auch unser nicht nur erotisches Zusammenleben mit Kränkeren, Älteren und Verrückteren als wir es selbst sind, ist manchenorts leichter und andernorts schwerer möglich, je nach Laufstegzensur, die nicht nur in unserer Macht liegt.

b) Überschreitung der Inszenierung
Manchmal sind weniger technische Hilfsmittel und weniger theatralischer Aufwand nötig, weil die Suchenden ihrer jouissance gewiß sind. Das "Spirituelle" finden sie im Überschreiten der individuellen Grenzen als Intimiät und Verschmelzung. Die ernstgenommene Perversion kann aber genauso zu einem Mehr an technischem Aufwand führen, wenn er hilfreich empfunden wird. Er kann auch Problematiken des "Spiegelhauses" in die Inszenierung verlagern, z.B. den Terror der Normkörper und ihrer Sexualität "aus mir heraus " auf die Leinwand, so daß ich sie gewissermaßen los werde und frei bin für die realen Anderen um mich herum.

c) Überschreitung des Geschlechtes
Mit der Verschmelzung von Subjekt und Objekt zur Intimität verschwindet mit der sozialen Hierarchie auch die Geschlechterdichotomie und weicht der Realität einer unendlichen Palette von "Geschlechtern" nach der "Zahl" der Individuen und der lustvollen Momente. Das ändert zwar zunächst nichts an unserer Geschlechtsgeschichte, die in unser Fleisch eingeschrieben und sozial kaum hintergehbar ist. Doch wichtiger als ein "männlicher" oder "weiblicher" Körper im ganzen wird das wunde Fragment, ein begehrtes Stück Haut, begehrte Körperpartien, ein begehrte Geruch und die damit möglichen Praktiken. "Sebastianitische" Perversion ist realisierte Queer-Theorie, besonders offensichtlich im Gebrauch der Brüste, der Füße und Körperöffnungen. Doch selbst wenn die Anwesenheit des Schwanzes nicht aufgebbar erscheint, verliert er im perversen Umgang doch seine Herrschaftsrolle als Phallus, da die ganze Welt "phallisch" umgeformt ist, d.h. "ent-scheiternde" weil ekstatische Realität.

d) Überschreitung von Zeit und Raum
Der gnostische Religionsgründer Mani formulierte im 3.Jh.p.C. das irdische Leid als "durch die Zeit auf den Raum gekreuzigt" sein. Exstatische Zwischenleiblichkeiten beenden diese "Kreuzigung" manchmal durch ein halluzinatorisches Vor-Zurück, durch ein Vergessen, wo man sich befindet, die Unschärfe von Anfang und Ende des eigenen Körpers und die Ununterscheidbarkeit der Geräusche, bzw. das Nichtwissen, wer sie hervorgebracht hat. Angesichts der knappgemachten Zeit durch Sterbenmüssen und gesellschaftliche Verhältnisse kann der Verlust des Zeitgefühls eine besonders befreiende Erfahrung werden.

Doch was ist daran "religiös" bzw. "spirituell", selbst wenn die soziale Zwischenleiblichkeit pervers ein wenig intimer gelingen sollte? Auf den ersten Blick könnte man versucht sein, die Verwendung ursprünglich religiöser Termini wie Exodus oder Ekstase in einem typisch modernen Verwirrspiel säkularisiert zu sehen (wie zuerst Hegel), was doch ihren übernatürlichen Sinn entleeren müßte. Erst der zweite Blick gibt die historische Konfliktlandschaft des Todes Gottes frei. Der platonische Gott des Wahren, Schönen und Guten, einst selbst der Kritik an überlebter Naturreligiosität entsprungen, war 1. zur Welterklärung überflüssig geworden und 2. im Blick auf das Leidenmüssen seiner Kreatur ein unmoralischer Despot oder gigantischer Sadist, mit dem man nichts zu tun haben wollte. Diese alte Frage nach der Rechtfertigung Gottes (Theodizee) löste mit der Europäischen Aufklärung die reformatorische Frage nach der Rechtfertigung des Menschen ab und wurde zur Rechtfertigung radikaler Säkularität. Denn wir können nur wenig für unsere Verhältnisse und gar nichts gegen den Tod ausrichten, im Gegensatz zu Gott, gäbe es ihn. Dennoch bleibt die Theodizeefrage auch in säkularer Gestalt lebendig, weil sie aus den Wunden der Menschen heraus fragt: warum gibt es, was es gibt und nicht nichts? Warum gibt es insbesondere uns bzw. mich, da wir doch leiden müssen? Im Sinne moderner Wissenschaft und Technik bieten die Religionen darauf keine Antwort. Wer sie dennoch wagt, ist für den Zeitgeist ein Sektierer.

Jede Überschreitung des Gegebenen, auch die sexuelle, stellt die Frage, ob nicht "Ostern" werden könnte aus dem notwendigen Scheitern. Die skizzierte Überschreitung in der perversen Obsession wählt als Weg für solches Fragen die Tiefe der Sinne, d.h. Glückspotenziale, die aus Wunden erwuchsen. Auch aktuelle Wunden aufgrund ökonomischen Elends, durch Kriege und Krankheiten wie AIDS erhalten in dieser Mystik eine spannende Doppeldynamik: einerseits dem Scheitern so viel Terrain abtrotzen wie möglich, andererseits für das letztlich unvermeidliche Scheitern die Sinnfrage nicht verloren geben, entgegen allem Anschein. Wäre "Hoffnung" nicht so ein geschundenes Wort, hieße es besser noch "Hoffnung wider alle Hoffnung". Statt Krankheit, Leid und Tod als "letzte Dinge" auszugrenzen, mit dem Unvermeidlichen tastend umgehen, auch vorsichtig deutend, aber ohne das Leid zu vergötzen: als Weg aus der Leidenschaft in eine Ruhe oder als Teilnahme an der Passion Christi auf ein grenzenloses Glück zu, in jedem Falle sinnlich. Fast gleichgültig, ob ich dies in säkularer Perspektive versuche. Fast gleichgültig auch, ob mein mystischer Kult(ur)raum eher der seelisch-fleischlosen ‘apatheia’ zustrebt (Buddhismus, Hinduismus, Gnosis, origeneisches Christentum) oder der Auferstehung des Fleisches (Judentum, orthodoxes Christentum, Islam) oder ob ich mir aus den verschiedenen Möglichkeiten einen persönlichen Blumenstrauß mystischer, vielleicht eher ästhetischer Vorstellungen gepflückt habe, der nicht konfessionell einzuordnen geht. Denn für "Religion in der Moderne" gilt die gesamtkulturelle Unmöglichkeit dogmatischer Wahrheitsfragen. Was zur abendländischen Kirchenspaltung führte, ist heute notwendig Geschmackssache religiöser Subkulturen. Gerade das ist aber kein "postmoderner Supermarkt" religiöser Beliebigkeiten oder gar die vielbeschworene "Wiederkehr des Religiösen". Denn erst als Geschmack werden unsere Obsessionen kulturell kommunizierbar. Geschmack ist, womit die Einzelnen real beteiligt sind, an welchem Kult auch immer. Geschmeckt wird, was von außen in unsere physische Wirklichkeit eintritt, von einem überfressenen, gierigen oder neugierigen Mund beurteilt. Die Nuancen des erfahrenen Geschmacks dokumentieren das Religiöse daher viel inniger, als rationale Bewegungen des Verstandes. Denn Menschen sind auch, lange vor allem Wissen, zunächst und zeitlebens Erfahrung. Darum war Glauben, Religion oder gar "Spiritualität" schon immer die hundertprozentig subjektive Gestalt objektiver Fragen und Plausibilitäten, auch wenn dies erst mit der Moderne seit Kierkegaard gesellschaftlich hervortritt, günstig für mystischen Eigensinn wie kaum eine frühere Epoche. Warum sollten wir als schwule Postmoderne daher keine Lustkulte leben und pflegen, säkular und vielleicht sogar religiös?

Fußnoten:
(1) Michel Foucault: Von der Subversion des Wissens, München 1994 S. 32
(2) Die Werke der Hadewych, aus dem altflämischen übersetzt und mit ausführlichen Erläuterungen versehen von J.O.Plassmann, Hannover 1923 S.86; zit. nach: Caroline Walker Bynum: Fragmentierung und Erlösung, Frankfurt/Main 1991 S.109
(3) Panizza: Agnes Blannbekin, eine österreichische Schwärmerin aus dem 13. Jahrhundert; zit. nach: Christina von Braun: Nicht Ich, Frankfurt/Main 1985/1999 S. 195-196
(4) Michel Foucalt a.a.O. S. 32-33
(5) Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift, Stuttgart 1995 Röm 7, 7-8