1999, universitätsintern

 

Obsession: Verfall
über Epiphanien in Dunkelraum und S-Bahn

"Wird das Leid groß, und können wir nicht anders, als ihm ins Auge blicken, dann sehen wir, daß es für das Leiden nur dann eine Hilfe gäbe, wenn sie in ihm selbst entstünde." (Romano Guardini)

Seit ich an AIDS erkrankt bin, rücken die ehedem "letzten Dinge" meines Glaubens in den Vordergrund. Die Armgemachten müssen nun ihren politischen Platz mit dem materiellen Verfall teilen, wenn Gott im Credo konkret wird: "...er hat Fleisch angenommen durch den Heiligen Geist aus der Jungfrau Maria und ist Mensch geworden..." Ohne mich auf die Art eines Zusammenhanges dabei festzulegen, formte sich in meinen gesunden Jahren mit dem HIV bereits eine Faszination an dem, was "hinten herauskommt"; an Körpern, deren Marktkonturen verschwimmen, an Praktiken, deren Alchimie Scheiße in sinnliches Gold zu wandeln sucht. Der eigene Verfall und seine Lüste mit anderen Verfallenden sind so in wachsendem Maße mein Thema geworden. Obsession, Glaube und Politik greifen daher im folgenden untrennbar ineinander. Ob es wohl möglich ist, jenseits landläufiger Vorurteile, der Kirche verschiedene Blicke auf die Körper und ihre Lüste zuzutrauen?

Bevor Sankt Franziskus heiligmäßig lebte, geschah ihm eine Umwertung, die seinem weiteren Gang die landläufig bekannte Richtung gab. Es war lange bevor ihm halb Umbrien folgte, noch vor seinem Bruch mit der wohlhabenden Familie Bernardone, deren Erbe er hatte werden sollen. Traditionelle Unterschiede der Ständegesellschaft, die adeligen "Majores" und die abhängigen "Minores", waren gerade durch die neue Hierarchie des Kaufmannsgeschickes relativiert worden. Leistung und Erfolg begannen hier zur merkantilen Ideologie Europas zu werden. Solch wohlhabendes patrizisches Bürgertum formte in den oberitalienischen Städten des 12. Jahrhunderts einen Vorgeschmack jener "Gutbürgerlichkeit", die aufklärend eine Moderne voranschob, der wir gerade zu entkommen scheinen. Der Geschmack der Körper aneinander ist ihr Thema.

Francesco Bernadone schmeckten die Mädchen und der Wein. Die große Dauerparty "Jugend" unter den Kindern der ökonomisch Beteiligten soll sein Lebensinhalt gewesen sein, als er einem Aussätzigen begegnet, der ihn spontan vom Pferd steigen läßt. Er folgt einem Impuls, gibt ihm ein Geldstück und küßt seine Hand. Der Abgrund, unreflektiert übersprungen, war sehr viel tiefer, als zwischen arm und reich. Es war der, zwischen Grab und Lebenslust, zwischen bereits Beerdigten und der Community.

Man vollzog den gesellschaftlichen Abschied eines Leprösen seinerzeit als Beerdigungsritual ohne Begräbnis. Dabei wurde zwar auch von den Sünden des gesamten Lebens absolviert, andererseits jedoch die totale Aussonderung in Kraft gesetzt. Der Priester glich bei dieser Handlung Charon, jenem Fährmann über den Styx in den Hades, dessen Eltern in den hellenischen Mythen "Dunkel" und "Nacht" heißen. Der Styx des Mittelalters, da die Lepra nicht heilbar war, ist jenes allen drohende Stück Lebensfluß, das vor dem leiblichen Tod kommen kann: der soziale Tod, wenn niemand dem Ekel vor dir widerstehen kann. Die Priester setzten die primärpräventive Ekelschranke in Kraft. Wie Schließer in einem imaginären Knast folgten sie dem gesellschaftlichen Konsens, der den Auschluß damals wie heute erzwingt. Immer schlüssig, mit "guten Gründen", in deren Logik sich "Ansteckung" und "Verbrechen" als Auswirkungen der fremden Einwirkung durchdringen.

Das gesellschaftliche Innen braucht den Ausschluß wie das Eigene die Fremden. Fratzen eines paradiesischen Ganzen bilden die Communities aller Zeiten, weil sie für wohltuend erklären, was doch blutig zerschneidet und der Gruppennorm immer neu die Opfer des Ausschlusses darbringt. Antidiskriminierungspolitik und Ausländerhetze haben hier ihren gemeinsamen Götzentempel. Drum nahmen jene Priester des Ekelschranken-Vollzugs, anders als der Reisebegleiter Charon, keinen Obulus für ihre Mühe. Fährmänner wollten sie nicht sein, deren Steuerkunst eine glückende Überfahrt hätte ermöglichen können. Sie verbannten stattdessen die stinkend Unheilbaren auf ein Boot, das nun für eine lange Einsamkeit allein zu trudeln hatte, ohne durch raschen Tod des Leibes oder durch liebende Zuwendung vom gesellschaftlichen Totsein befreit zu werden.

Im Fall des spontan barmherzigen Francesco tut der Kranke, was bei Todesstrafe verboten ist: er küßt dem jungen Geber beide Wangen. Die sinnlich drohende Infektion als materielle Gestalt existenziellen Abstiegs affiziert das gepflegte Patrizierantlitz. Der Don Bernardone in spe empfängt aus diesen Küssen eine systemwidrige Obsession: "Was mir vorher widerlich und bitter erschienen war, wurde in Süßigkeit für Seele und Leib verwandelt" zitieren ihn seine Hagiographen. Francesco empfand sinnlich, was christliche Erlösung ausmacht:

 

"Christus Jesus war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest..., sondern entäußerte sich und wurde wie ein Sklave...bis zum Tod am Kreuze." (Phil 2,6 ff) Als Kern der Nachfolge schildert Paulus im Anschluß an dieses "Entäußerungslied": "Was mir früher ein Gewinn war, das habe ich um Christi Willen als Verlust erkannt." (Phil 3,7) "Denn das Niedrige in der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt: das, was nichts ist, um das, was etwas ist, zu vernichten." (1 Kor 1,28) Dem Gekreuzigten folgen bedeutet also die Umwertung des konventionellen Geschmacks: selig ihr Armen, ihr Trauernden, ihr Verfolgten, ihr Verfallenden!
Warum? Weil Gott selbst ein Armer, Trauernder, Verfolgter und Verfallender wurde. Und den Glaubenden ist Gott ein Fest, das ganz offensichtlich noch aussteht. Je fleischlicher der Anspruch, desto offensichtlicher das Ausstehen von Erfüllung und Glück. Können von der materiellen Schwere abrückende Heilszustände noch leidlich phantasiert werden, wird die Festlegung auf eine biologisch wie politisch opferlose Welt in der christlichen Zuspitzung jüdischer Opferkritik zum anstößigen Jenseits aller "Aufstiegs"ideen, seien sie intelektuell, spiritualisierend oder politisch: "Die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dagegen verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit." (1 Kor 1,22-24). Gottes Entäußerung in unser Menschsein scheidet folglich nicht Brave von Unangenehmen. Im Gegenteil, sie setzt ganz unten an, umfängt vom gesellschaftlichen Bodensatz der VerliererInnen aller Zeiten her alle und vollbringt im Hingerichtetwerden die Erlösung von den Zwangsläufigkeiten, wie die ChristInnen glauben.

Jesus war daher nicht bloß "solidarisch" mit VerliererInnen und Verbrechern, wie wir freundliche ZeitgenossInnen das manchmal sind. Für die geltende Rechtslage war er -tatsächlich und nicht zum Schein!- ein Verbrecher. Dasselbe gilt für die vielen Frauen und Männer, deren Überzeugungen das gesellschaftliche System ihrer Tage offensichtlich nur als Nachruf akzeptieren konnte. Die politischen Theologien der Moderne wären ohne Märtyrer wie Oskar Arnulfo Romero in El Salvador oder Dietrich Bonhoefer und Bernhard Lichtenberg in Berlin undenkbar. Sie standen körperlich ein für die Umwertung des Systemgeschmacks an den Körpern von bitter zu süß. Wie Ignatius von Antiochien, der, zum Tode verurteilt, um das Jahr 107 herum formulierte: "Laßt mich meinen Gott im Leiden nachahmen!"

Diese Sicht der Welt ist doppelt verrückt. Sie rechnet mit dem Unmöglichsten, nämlich mit der Abschaffung beider Tode: Tod als sozialer Ausschluß und als fleischlicher Verfall. Auch wenn es für Andersdenkende nach Masochismus aussieht, die christliche Entscheidung für das Fest ohne alle Grenzen führt zu Opfern, manchmal bis ins Martyrium. Nicht weil Leiden so schön wäre, sondern weil es glaubend abzuschaffen ist. Nicht weil "bitter" ein guter Geschmack wäre, sondern weil in der bitteren Hingabe an die Verbitterten, die Verstoßenen und Verfallenden das Mysterium von Kreuz und Auferstehung geschieht: "Kostet (Luther sagt "schmecket") und seht, wie gütig der Herr ist" (Ps 34,9), wie süß und köstlich das Festmahl der Umwertung aller Werte mundet. Weil Ostern stets bei den Verlorensten, den Huren und Zöllnern der jeweiligen Epoche anfängt, kommen ChristInnen mit den jeweils herrschenden Systemen in Konflikt.

Zurück zu Francesco, den sein Vater so nannte, weil es ihm um den Erfolg seines Sohnes auf der Höhe der Zeit ging. "Französchen": Geld und Kultur verwiesen in die Provence. Man dichtete provencalisch und suchte provencalischen Luxus. Das Körperideal wurde zur gepflegten Jugendlichkeit, befreit von den Ausdünstungen des Stoffwechsels, voller glattgeschminkter Falten, trainiert auf einen glücklichen Blick. Ewige Werte werden er-blickt (im Sinne von er-baut/ konstruiert), wo der schöne Schein von Jugendlichkeit und Kraft die übergeordnete Einsicht verdeckt, daß alles, auch die Schönste, zu vergehen hat.

Viele Motive des Körpergeschmacks, der die Disziplin unseres persönlichen Fleisches hervorbringt, werden vermutlich in den aufstrebenden Kommunen jener Zeit bereits kultiviert worden sein. Die intellektuelle Elite des Duecento erarbeitete sich Aristoteles, dessen Ästhetik den Künstler zur Verschönerung der Natur verpflichtete. Die ehedem allenfalls von adeligen Fräulein genutzte Kosmetiktruhe öffnete sich im aufstrebenden Patriziat nun breiteren Bevölkerungsschichten, wie zeitgenössische Fresken belegen. Man dachte adelskritisch und strebte eine breite Partizipation an. Der platonische Sinn "vor" den Dingen, jenseits ihrer Diesseitigkeit, wich einer "wiederentdeckten" Sinnlichkeit, entzündet an der dinglichen Konkretion. "Le dolci rime d’amor", die süßen Liebesverse Dantes wie aller Minnedichter, traktieren zuinnerst den ersten Satz der aristotelischen Metaphysik, daß alle Menschen von Natur aus zur Wahrheit streben. Zwar hat sich die sinnliche Liebe zur Angebeteten in all diesen Texten an deren moralischer Härte und Sittsamkeit im Sinne von Unerreichbarkeit zu läutern. Aber Erregung wird nach Jahrhunderten literarischer Verbannung als solche wieder positiv thematisiert. Das Wahre, Schöne und Gute wird in den sinnlichen Empfindungen für die Begehrten und als deren körperliche Erscheinungen faßbar.

Die Relativierung der Sozialstruktur und die Konkretisierung der Körperideale bilden das Material Francescos, in das die Umwertungsobsession "fährt". So viel "demokratischer" oberitalienische Gesellschaften seiner Zeit wurden, im Vergleich zu ein paar Jahrzehnten früher geradezu revolutionär, so stark spitzte sich das Kontrollmuster der tendenziell Chancengleichen gegeneinander zu. Über Ein- und Ausschluß bestimmt jeder Blick der einzelnen auf alle anderen. Was gut riecht, was schön klingt, was wohlgestaltet aussieht legen die Blicke gegeneinander fest. Die so sich ausformenden Ideale des Aufstiegs brauchen das Verachtete, Häßliche, Stinkende und stellen es her, legen VerliererInnen fest auf die Schattenseiten des Lebens, die zu fliehen abendländische Kultur seit dieser Frührenaissance bis jetzt nicht müde wird.Selbst in der Bibel findet sich diese Sicht in einem Text, der nach dem babylonischen Exil um 550 a.C. entstand: "Freu dich, junger Mann, in deiner Jugend..geh auf den Wegen, die dein Herz dir sagt, zu dem, was deine Augen vor sich sehen... Halte deinen Sinn von Ärger frei, und schütze deinen Leib vor Krankheit; denn die Jugend und das dunkle Haar sind Windhauch... ehe die Tage der Krankheit kommen und die Jahre dich erreichen, von denen du sagen wirst: ich mag sie nicht!...ja ehe die silberne Schnur zerreißt, die goldene Schale bricht, der Krug an der Quelle zerschmettert wird, das Rad zerbrochen in die Grube fällt, der Staub auf die Erde zurückfällt als das, was er war, und der Atem zu Gott zurückkehrt, der ihn gegeben hat: Wind-hauch, Windhauch, sagte Kohelet, das alles ist Windhauch." (Koh 11,9-12, 1,6-8)

Des Francescos Wandlung zum Franziskus begann mit einer neuen "Obsession", die ihrem Namen deswegen besondere Ehre macht, weil das Einfahren der Besessenheit vom Betroffenen bewußt erlebt wurde. Sie bildet die Umkehrung des "Windhauchprinzips" (früher hieß das: "alles ist eitel") und erwählt das Fleisch in seiner spezifischsten Eigenschaft, dem zwangsläufigen Verfall. Nachdem er einer spontanen Regung folgend die Ekelkonvention gebrochen hatte, wurde "in Süßigkeit für Seele und Leib verwandelt", was ihn bis dahin anwiderte. Das neue Objekt der Begierde hatte keinen prallen Busen, keinen knackigen Po und kein verführerisches Lächeln, wie seine üblichen Affären. Er begehrte ein Wesen mit unversorgten Wunden, das von Eiter troff und aus allen Körperöffnungen stank. Keine Tanzkapelle spielte auf und Wein ist nicht gereicht worden. Aber Francesco hing der Himmel voller Geigen.

Was bei obsessiver Erregung immer geschieht, erfüllte ihn in diesen Minuten: am Gegenüber entzündet führt sie zur Identifikation, zu einer Art "ich bin außer mir selbst auch noch du". So findet im sinnlichen Taumel quasi ein "Hereinholen" des Anderen statt, gelegentlich mal als Subjekt, immer aber als Objekt, als materielles Stück Fleisch, dessen Zustand mich erzittern läßt. Die Grenzen des Ichs, als Haut immer schon semipermeabel, wird nun in beide Richtungen durchlässig. Eine Vermischung beginnt, die der Hl. Paul vom Kreuz (1694-1775) beschreibt. "Die Liebe ist eine einigende Kraft, sie macht sich die Qualen des Geliebten zu eigen. Dieses Feuer dringt bis ins Mark, es verwandelt den Liebenden in den Geliebten." Diese Einverleibung läßt die bittere Zweiheit, das "Diesseits" von Du und Ich zum verschmolzenen "Jenseits" einer lustvollen Süße werden. Hier fragt niemand nach Höhepunkten, denn wer sich entäußert gibt und empfängt ohne "Soll" und/ oder "Haben". Der "vollendete Orgasmus" nach Masters/Johnson ist solchen orgiastischen Begegnungen fremd, selbst wenn er meßbar wäre. Auch die u.a. Zeit, v.a.aber sparende "Entsaftungsideologie" diverser Homozirkel fehlt.

Solch wechselseitig schenkende Durchdringung besingt die Weihnachtsliturgie: "O admirabile commercium" was heute verdeutscht wird: "Welch wunderbarer Tausch!" Denn "Kommerz" meint inzwischen anderes, als die Väter des ersten Ökumenischen Konzils von Nikaia 325 im Sinn hatten. Damals nahm das Weih-nachtsfest Gestalt an, aus dessen Liturgie der Vers stammt. Es formte den Son-nenkult und besonders die Saturnalien derart um, daß es auf der Konkretion eines "mundus inversus" bestand. Die "verkehrte Welt" des "Goldenen Saturn-Zeital-ters" vor Krieg und Geschlechterkampf sollte gelten, nicht bloß scheinen. Die Herren sollten die Sklaven nicht karnevalesk, sondern real und für immer bedie-nen. Der Tausch sollte frei und gerecht werden, ohne bei der Promiskuität der 7 wilden Tage bis zur Wintersonnenwende am 25.12. stehen zu bleiben, auf die der konventionelle Trott folgt. Der Abt Proclus von Konstantinopel (bis 446) sagt es präzise: "Er ist mir so ähnlich geworden um meinetwillen; er ist geworden, was er nicht war, und bewahrte dennoch, was er war." Dies meint keine "ausreichende Identitätsgrundlage" im Habermas’schen Sinne, die für ein Zugehen auf andere und anderes angeblich Bedingung sei. Diese Chimäre avancierte leider auch als "Selbsthilfe", politische Theorie (z)ersetzend, zum Tanz um das goldene Selbst. So hält sich hartnäckig der Mythos vom (z.B. schwulen) Identitätsgrund aller HIV-Prävention und seinem bewußtlosen Gegenüber, dem Desperado im Schrank. "Identität" als das Eigentliche, die sich öffnet, falls sie vielleicht mag; Zuneigung dagegen als etwas beliebig Hinzukommendes führt "Entäußerung" ad absurdum. Denn Herausdrehung aus sich selbst ist die "Identität" Gottes. Sein "Er-selbst-Bleiben" ist sein "Ganz-aus-sich-Herausgehen". Fast genau das Gegenüber zu unserer Angst, uns "zu sehr" liebend zu verlieren, ist sein Wesen.

Gottlob nur "fast". Denn unser Humanum stützt sich zwar in allen Einzelnen auf Identität und wer nicht "Ich" zu fühlen lernt überlebt die frühen Kindertage nicht. Als Möglichkeit obsessiver Umwertung "gibt" es die christliche Lust dennoch, wo die identische Schraube des Subjekts spontanen Geschmack an ihrer Gegen-richtung findet, durch Haut-Grenzen hindurch, über Hürden der Mehrwertkonven-tionen hinweg und vermittels der ebenso spontan wie wundersam wohlschmek-kenden Ekelschranken in die begehrend-begehrten Anderen hinein. Das "Fast" bedeutet aber auch, daß das mit der Entäußerung nicht einfach "funktioniert". Denn wir finden uns selbst mitten in Notwendigkeiten unserer Egozentrik vor. Deren Erlösung in die "Wendigkeit" aus der Not des einsamen Ego bildet Vorge-schmäcker in Richtung eines alle umfassenden Festes, eines wahren Ganzen, oder, wem es besser so schmeckt, einer ozeanischen Ruhe.

Nicht was die Entäußernden als (mehr oder weniger "sexuelle") Verrichtungen tun ist das Süße dieser Vorspeise zum himmlischen Hochzeitsmahl, sondern daß die beteiligten Iche ihr Eingedrehtsein in sich selbst nicht nach innen weiterdrehen und verrückte Schraubungen wagen. "Süß" ist, zumindest auch, was wir Spätmoderne mit Blick auf körperproduzierte Drogen "Endorphinausschüt-tung" nennen. Im Unterschied zu deren Süße beim "Sex", dessen Obsessionen ihr genitales Lied von der Landnahme der herrschenden Normen im Fleisch unserer Persönlichkeit singen, wird die Abweichung von koitalen Steckspielen hier jedoch nicht als Triumph der "Perversion" gefeiert. Penetrationen könnten sogar entäußernd stattfinden, auch wenn ich das für recht unwahrscheinlich halte. Der Triumph der gebrochenen Norm ist auch nicht Batailles pseudodionysische "Überschreitung", die das Zurückmüssen der Einzelnen in den großen Strom des Seins im "petit mort" des Orgasmus "offenbart". Vielmehr schwärmt der Umwertungsprozeß des Bitteren, gepackt vom einem sinnlichen Verlangen namens "Süße für Seele und Leib" , für den offensichtlichen verfallenden Anderen. Dieses "Gepacktwerden" ist nur als passiv erfahrene Verwandlung möglich. Sie findet im Andocken des sinnlich Hereindrückenden, z.B. per unkonventionellem Geruch, quasi "vor" der Konvention statt und übersteigt sie gleichzeitig. Dieses "Vor" ist weder zeitlich als frühkindliche Erinnerung, noch moralisch als Vorrangigkeit oder gar als heroische Verbiegung zu Praktiken gemeint, die man soll aber nicht will.

Der Referenzpunkt dieser Lust ist die Ekelschranke des sich auflösenden Körpers. Was (nicht wer!) einmal ein phallisch zentrierter, muskulöser Mann war bettelt mit zerfallenden Organen um Einlaß in die Sinne. Noch vor dem Auge nimmt die Nase die Katastrophe war: "Manche riechen nach Tod" sagte mir ein Mann mit vielen AIDS-kranken Freunden. "Herr, er riecht schon" (Jh 11,39) warnt die Schwester des toten Lazarus, bevor Jesus seinen seit vier Tagen toten Freund "ent-west". Jesus verlangt nach diesem Mann. Als er das Grab gezeigt bekommt, "da weinte Jesus. Die Juden sagten: ‘Seht, wie lieb er ihn hatte!’" (Jh 11,35-36) Weil seine Heilkunst bekannt ist, steigert die Erwartung eines Wunders seine Zuneigung zu Lazarus. "Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt und er ging zum Grab." (Jh 11,38) Das Auge sieht lauter Warnsignale, sich aber nun endlich abzuwenden, den Blick vor dem Elend zu verschließen. Die Hand spürt (früh) gealterte Haut, Geschwüre, näßende Partien, Verklebtes, Verbundenes, Verklumptes. Der Mund fühlt die pelzige Zunge, zäher Schleim gleitet im Kuß hinüber und schmeckt nach Scheiße. Bewegungen sind linkisch, unharmonisch. Der normierte Körper reibt sich an einem kaum mehr strukturierten Gegenüber; die konditionierten Reize funktionieren nicht. Nicht weil Pawlows Glocke klingelt trieft der Speichel, sondern weil die Ökonomie des Verfalls kein Halten kennt. In dieser begehrenden Entäußerung des Gott-Menschen zu dem Objekt, dem Leichnam seines Freundes, geschieht die Erweckung. "Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden und laßt ihn weggehen!" (Jh 11,44) So schwierig es ist, die Historie dieser Geschichte exegetisch zu bestimmen, so gewiß ist, daß sie nicht "symbolisch" oder "metaphorisch" gemeint sein kann.

Im Dunkelraum sieht das konditionierte Auge was es möchte und erschrickt beim gemeinsamen Bier danach vielleicht: Bei mir ist wohl eine Schraube locker? Vielleicht fällt sie bei solch obsessivem Treiben auch ganz raus aus der Konstruktion und die Maschine ist nicht mehr funktionsfähig, die Leistung bleibt aus und mit ihr der Erfolg. Zumindest der, von den MitbewerberInnen des Abends ob des Jagdglücks beneidet zu werden. Eine Entäußerungs-Hierarchie möglicher Obsessionen ließe sich herstellen, wäre das Interesse dieses Textes sexualpathologisch. Die Logik der Entäußerung hat jedoch kein solches Interesse. Es geht ihr um die verlangenden, die angewiesenen Anderen. Das Verlangen nach einem glückvollen "Jetzt", und nicht Batailles Orgasmus, offenbart die Einsicht der Sinne ins Vergehenmüssen. Seine "Kultivierung" auf Objekte, denen der trügerische Schein ewiger Jugend oder ewig-fiter Virilität anhaftet, kann ein paar Jahre lang zwar täuschen, täuscht jedoch auch über die größere Wahrheit des betroffenen Stückes Materie hinweg. Um so schmerzlicher geraten Prozesse der Übersetzung persönlicher Obsessionen in Lebensstrecken des Alters oder der Krankheit, je "apollinischer" in den Jahren der Kraft begehrt wurde. Die packenden Fähigkeiten, andere im Begehren tat-sächlich und nicht als idealisierte Subjekte meinen zu können, überwältigen im Ansatz die gewaltigen Konventionen der Aufstiegsideologien und gewinnen Geschmack am biographischen Bodensatz des Scheiterns.

Das österlich Wunderbare der Obsession Verfall "schaute" ich vor kurzem in der S-Bahn. Die Begegnung geriet zur Epiphanie, zum Aufleuchten des göttlichen Geheimnisses im Fleisch und zur Blamage meiner Konventionalität. Erschöpft besteige ich einen der letzten Züge nach Hause, da pestet mich Verwesungsgeruch in einem überfüllten Abteil. Die meisten schielen angewidert auf einen verwahrlosten Alten, der lallend und sabbernd vor sich hin stinkt wie ein Misthaufen. Ich bemühe mich, meine Erinnerungen an gar nicht so ferne Stunden mit äußerst Verwandtem im Sling über meinem Bett zu aktivieren. Bei geschlossenem Auge beginnt auch ein schwacher Endorphinkitzel. Dann schaue ich wieder hin und stelle mir den tatsächlich, nicht für ein paar geile Stunden, versauten Körper vor, den Arsch voller Feigwarzen und unversorgter Geschwüre. Die Vorstellung, mit diesem Elenden zu tun, was mir so lieb geworden ist, macht mich schaudern. Die Endorphine verstummen. Kein Begehren, kein Entäußern, kein Ostern labt die verfallende Materie dieser 20minütigen Fahrt, seine nicht und meine nicht. Um so wunderbarer und politisch wie biologisch skandalöser, wenn das Bittere tat-sächlich zur Süße für Seele und leib würde.

Wie kann Fleischwerdung Gottes hinsichtlich der Lüste gedacht werden, Gott, dessen Wort als heiliger Text so zahlreiche Sexualverbote ausspricht? Ich meine, Er hat in diesem Prozeß dazugelernt. Das vordem Leidensunfähige Wort soll schließlich ein leidensfähiger Mensch geworden sein und hat "mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn vor dem Tode retten konnte... obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt." (Hebr 5,7-8) Dieser "Gehorsam" gilt dem Verlangen Gottes, sich in die Materie Mensch zu "entäußern". Der vordem zwar bereits in sich ganz und gar Liebende, als Dreiheit in vollkommener Einheit, wird leiden/schaft/sfähig, ein sinnlich Liebender. Christliche Erlösung erscheint so als die Lust Gottes am Abstieg in die Materialität des tödlichen Verfalls, die zugleich als "Aufstieg" zur himmlischen Hochzeit Gottes mit seiner Materie geglaubt wird, als Kreuz und Ostermorgen. Der neuzeitliche Skandal daran ist nicht die Psyche oder der Intellekt dieses Gott-Menschen, sondern seine jeder Subjektivierung vorangehende Objekthaftigkeit, denn "das Wort wurde Fleisch". (Jh 1,14) Genau was G.W.F. Hegel in seiner Religionsphilosophie am Katholizismus beklagte ist die Pointe desselben: "Gott selbst als ein Ding", auch wenn das den JüngerInnen Eugen Drewermanns als mittelalterlicher Zopf gilt. In der ausgehenden Moderne, da das Subjekt seine Aufstiege so jämmerlich beendet, kann neu über den Weg des Glücks ins Objekt nachgedacht werden, ohne sofort den Verdacht zu erregen, den rückgratlosen Massenmenschen zu propagieren.

Solche "Entäußerung" aus einer geglückten Identität ist emanzipatorischen ZeitgenossInnen allerdings keineswegs selbstverständlich. Noch weniger, daß es dabei um eine quasi "postsexuelle" Obsession "Verfall" gehen könnte. Nicht nekrophil, wie viele in Nietzsches Gefolge Christentum interpretiert haben. Auch Florence Nightingale ist hierfür kein Modell, denn ihre Hingabe an Verfallende perfektionierte in erster Linie die britische Kriegsmaschinerie. Masochistische Unterwerfung kommt der göttlichen Lust am "Bodensatz" ebensowenig nahe, auch wenn so Genanntes gelegentlich ein Zerrbild des Gehorsams Christi sein mag. Ich glaube stattdessen, daß die platonische Unvereinbarkeit von "Fleisch" und "Geist" in der Leidenschaftsfähigkeit Gottes aufgehoben ist.
Also: "Ganz" im Gegenteil.